Endlich wieder leben
ich zwei Drittel der Haft verbüßt. Im Rahmen einer Amnestie kam ich frei und wurde in meine Heimatstadt Delitzsch entlassen. Man gab mir meine alten Kleider zurück, die mir nun vom Körper fielen, und ich hatte den Erhalt von 37 Mark und ein paar Pfennigen zu quittieren. Das war alles, was ich für fast zwei Jahre Arbeit erhielt.
Als Erstes fuhr ich zu unserer Wohnung. Die Haustür ließ sich noch mit meinem Schlüssel öffnen, aber der Schlüssel für die Wohnungstür passte nicht mehr. Eine Frau brüllte von innen, ob ich einbrechen wolle. »Hier hat doch mal Frau Erler mit zwei Kindern gewohnt«, wandte ich kleinlaut ein. »Die ist doch im Westen!«, schallte es zurück. Die Nachmieterin zeigte mir sogar eine Ansichtskarte von drüben. Es stimmte also. Meine Mutter war weg.
Ich zog zu meiner Oma. Zumindest gewann ich durch sie die Gewissheit, dass meine Mutter sich nicht von mir abgewandt hatte. Nach dem plötzlichen Verschwinden hatte sie mich als vermisst gemeldet und von der Polizei suchen lassen. Als niemand herausfand, wo ich war, nahm sie an, ich hätte mich heimlich in den Westen abgesetzt. Das erleichterte es ihr nach ihrer Haftentlassung 1954, den Beschluss zur Flucht nach Westdeutschland zu fassen.
Für mich begann in Delitzsch eine schwierige Zeit. Ich durfte den Ort nicht verlassen, besaß keinen Ausweis, hatte die bürgerlichen Ehrenrechte verloren und musste in der Delitzscher Schokoladenfabrik arbeiten. Ich war misstrauisch gegenüber allen und sah in jedem einen Feind. Wenn bekannt würde, so dachte ich, dass ich im Gefängnis gesessen hatte, würde niemand mehr etwas mit mir zu tun haben wollen. Zu meinem späteren Mann – er wohnte genau gegenüber – entwickelte ich allerdings von Anfang an Vertrauen, obwohl sein Schwager in der SED war. Nach sechs Monaten machte er
mir einen Heiratsantrag. Wir haben schnell geheiratet und sind kurz nach der Hochzeit in den Westen geflüchtet. Ohne mein Kind. Ich wusste schon, dass mir keiner in der DDR sagen konnte oder wollte, wo meine Tochter lebte.
Vom Westen aus nahm ich die Suche nach meinem Kind wieder auf. Die Anfragen des Deutschen Roten Kreuzes beim Ost-Berliner Ministerium für Familie und Sport wurden jedoch regelmäßig negativ beschieden. Angeblich war meine Tochter nirgends zu finden. Erst nach über zehn Jahren erhielt ich die Nachricht, dass Ute bei Pflegeeltern in Eilenburg lebte, nur zwölf Kilometer von Delitzsch entfernt. Die Leiterin des Kinderheims, in das meine Tochter kurz nach der Geburt eingeliefert worden war, hatte die Kleine mit nach Hause genommen und als Pflegetochter aufgezogen, denn mit ihrem Mann, dem Kreisvorsitzenden der SED in Eilenburg, konnte sie keine eigenen Kinder bekommen.
Ich schrieb damals Briefe und schickte Päckchen an meine inzwischen dreizehnjährige Tochter, doch Ute lehnte jeden Kontakt mit ihrer leiblichen Mutter ab. Im Ministerium hieß es immer: Die Tochter will nicht zu Ihnen. Ich sei eine »Bordsteinschwalbe«, hatte man Ute erzählt, und würde mein Geld im Westen auf dem Strich verdienen.
Nach dem Mauerfall 1989 unternahm ich einen zweiten Anlauf und ließ meine Tochter noch einmal über das Deutsche Rote Kreuz suchen. Wir trafen uns in Leipzig auf dem Hauptbahnhof. »Bilden Sie sich nicht ein, dass ich Mutti zu Ihnen sage«, erklärte Ute mir als Erstes.
»Davon bin ich nie ausgegangen«, antwortete ich, »ich wünschte aber, wir könnten Freunde werden.«
Wir haben uns ein paar Mal getroffen. Auch meine anderen Kinder, ihre Halbgeschwister, sind nach Leipzig gefahren und boten ihr die Freundschaft an. Aber sie wollte nicht. Sie schwärmte nur von ihren Pflegeeltern.
»In der DDR ist keiner ins Gefängnis gekommen, der nichts gemacht hat«, erklärte sie mir.
Meine Rehabilitierungsakte vom Bezirksgericht Leipzig kommentierte sie mit den Worten: »Das schreiben die Richter bloß, damit sie kein schlechtes Gewissen haben.« Als ich ihr einmal von der Haft erzählen wollte, unterbrach sie mich: »Du musst mir nichts erzählen. (Da duzten wir uns schon.) Ich weiß, dass ich im Knast geboren bin.«
Als ich ihr 2007 mitteilte, dass ich bei der Stasi-Unterlagenbehörde einen Antrag auf Akteneinsicht stellen würde, ist der Kontakt vollständig abgebrochen.
Ja, ich habe viel geweint, aber nie vor ihr.
AUFBRUCH IN DEN WOHLSTAND
E in Land im Aufbruch: »Da wimmelt und brodelt es, da wird geschafft, geleistet, da ist in Staub- und Schweißwolken die deutsche Tüchtigkeit tüchtig am Werk«,
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