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Endlich wieder leben

Endlich wieder leben

Titel: Endlich wieder leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helga Hirsch
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wolle, und schon am nächsten Tag hatte die Dippelbraut Arbeit in der Fabrik.
    Etwa fünf Jahre sind wir miteinander gegangen. Bis mein Vater eines Tages fragte, wie es mit uns weitergehen sollte. »Habt ihr denn gar nicht ans Heiraten gedacht? Wollt ihr euch denn nicht einmal verloben?« So haben wir uns Silvester 1953 verlobt, und am 5. Juli 1955 haben wir geheiratet.
    Ich wusste schon, dass Ludwig entschlossen und ehrgeizig war. Von Kindesbeinen an war ihm klar, dass er nicht unter solchen Bedingungen leben wollte wie seine Eltern, die mit dem Geld auskommen mussten, das sein Vater als Maurer und Waldarbeiter nach Hause brachte.
    Zuerst holte Ludwig mich noch mit einem Fahrrad ab. Danach kam er mit dem NSU-Motorroller Lambretta vorbei, einem italienischen Modell, dem letzten Schrei damals. Und bald war er stolzer Besitzer von einem gebrauchten VW-Käfer. Aber er war überzeugt: Wenn man etwas erreichen will, muss man Kredite aufnehmen. Von 66 Pfennig Stundenlohn, die er als Geselle in der Autowerkstatt von Fritz Herrmann verdiente, konnte er keine größeren Anschaffungen
machen. Also lieh er sich das Geld bei seinem Nachbarn, einem Postbeamten, der keine Zinsen verlangte, weil Ludwig ihm manchmal bei der Ernte half.
    Mit dem gebrauchten VW-Käfer zog er sein erstes selbstständiges Unternehmen hoch, ein Mietwagengeschäft, bei dem die Leute das Auto samt Fahrer mieten konnten. Und da damals kaum jemand ein Auto besaß, lief das Geschäft nicht schlecht. 1953 stieg er vom VW-Käfer auf einen VW-Bus um – ebenfalls mit Kredit. Nun konnte er ganze Familien längere Strecken zu Konfirmationen, Hochzeiten oder Beerdigungen in die umliegenden Ortschaften fahren und die Einnahmen erhöhen.
    Fritz Herrmann hat schnell erkannt, dass sein Geselle Ludwig selbstständig zu handeln versteht. Als es Anfang der 1950er Jahre mit VW richtig losging, bot er ihm die Stelle eines Filialleiters in Stadtallendorf an. Doch Ludwig sagte nein. Sein Vorbild waren eigenverantwortliche Kaufleute. Vor ihnen hatte er einen Heidenrespekt. Bis in die dreißiger Jahre waren das bei uns im Ort vor allem Juden gewesen. Es gab zwei jüdische Viehhandlungen, zwei Gemischtwarenhandlungen, eine Handlung mit Getreide, Stoffen und Schuhen, eine Eisenwarenhandlung und zwei Mazzenbäckereien Die meisten jüdischen Familien kamen allerdings in den Konzentrationslagern um, und von denen, die emigrierten, ist niemand zurückgekehrt. Nach dem Krieg hatten alle jüdischen Geschäfte neue Besitzer.
    Ludwig imponierten auch die Unternehmer aus der DDR, die sich in Neustadt nach dem Krieg niedergelassen hatten. Neben dem Handschuhfabrikanten Gottfried Michael waren das noch Holland-Letz aus Thüringen, der eine Werkzeugfabrik aufmachte, die bis heute Schraubendreher herstellt, und Emil Rössler, der Sohn des Ergee-Strumpffabrikanten Edwin Rössler aus Gelenau im Erzgebirge, dessen Fabrik enteignet worden war.
    Rössler brachte die Facharbeiter und Führungskräfte, die ihm in großer Zahl aus der DDR nachreisten, in der Wohnsiedlung »Am Steimbel« unter, die ursprünglich für Zwangsarbeiter in den Allendorfer WASAG-Sprengstoffwerken gebaut worden war. Immer mal wieder schickte er Ludwig los, die Leute mit seinem VW-Bus am Grenzübergang Herleshausen abzuholen.

    Bild 19
    Die Motorisierung des kleinen Mannes: Die fünfziger Jahre waren das Jahrzehnt des Motorrollers, der immerhin Spitzengeschwindigkeiten von siebzig bis neunzig Kilometern pro Stunde erreichte. Vespa und Lambretta passten zum neuen, jugendlichen Lebensgefühl von Aufbruch und Freiheit – Audrey Hepneuen, jugendlichen Lebensgefühl von Aufbruch und Freiheit – Audrey Hepburn und Gregory Peck lebten es vor im Film »Ein Herz und eine Krone«.
    Nicht bei allen Neustädtern waren die Fabrikanten gern gesehen, denn für die Bauern waren sie Konkurrenz. Im Ort ist es zu richtigen Zusammenstößen gekommen. Sogar der Spiegel hat darüber berichtet. Bis dahin waren wir ja eine arme, landwirtschaftliche Gegend gewesen. Es hatte viel mehr Arbeitssuchende als Arbeitsplätze gegeben, vor allem als sich nach dem Krieg unsere Einwohnerzahl durch die Vertriebenen und Flüchtlinge fast verdoppelte.
    Unser parteiloser Bürgermeister hat sich daher sehr um die Ansiedlung von Industrie bemüht. Und als die Industrie kam, sind fast alle, die arbeiten wollten, in die Fabriken gegangen, weil sie dort mehr verdienten als in der Landwirtschaft. Das hat die Bauern und besonders den CDU-Abgeordneten Paul Müller

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