Endlich wieder leben
VW ein großes Bild vom damaligen VW-Werk mit dem Schriftzug »Ludwig Dippel«. Ein bisschen stolz waren wir da schon, dass wir es so weit geschafft hatten.
Seitdem konnte ich in der Regel schon um 19 Uhr nach Hause gehen. Ich habe mich mehr um meine Kinder gekümmert – inzwischen waren es vier. Und ich habe mich wieder am Leben im Ort beteiligt. Schon vor der Heirat hatte ich Theater gespielt. Jetzt stieg ich als erste Frau unserer Stadt bei der Fastnacht in die Bütt – bei der Kolpingfamilie, dem katholischen Sozialverband, der in Neustadt sein 21. Jubiläum feierte. Bei einer Flasche Rotwein habe ich gemeinsam mit Ludwig die Rede entworfen: »Hurra, ich bin erwachsen …« Ich war schrecklich aufgeregt. Als ich dann aber in der Bütt stand, fühlte ich mich plötzlich ganz leicht, und die Worte flossen
mir im rheinischen Dialekt über die Lippen, obwohl ich eine Hessin bin. Die Leute waren begeistert und sind aufgesprungen. Einige Männer haben mich auf den Schultern aus dem Saal getragen.
1998 haben wir unseren Kindern den Betrieb übergeben. »Den Betrieb gibt man nicht aus der Hand«, haben zwar einige Bekannte im Ort gesagt. Aber wir denken: Eine Firma kann man nicht mehr so führen wie vor fünfzig Jahren. Unsere Kinder schmeißen die Firma auf neue Weise genau so gut wie wir. Heute zählt der Betrieb zu den »Top Performern«. Weiß der Teufel, was das genau bedeutet. Aber jedenfalls ist er ausgezeichnet worden.
Für die Kinder war von Anfang an klar, dass sie in unsere Fußstapfen treten. Sie haben sich immer mit dem Betrieb identifiziert. Vielleicht, weil wir nie gesagt haben, dass uns die Arbeit zu viel wird oder keinen Spaß macht. Vielleicht auch, weil sie gesehen haben, dass man es im Leben zu etwas bringen kann, wenn man etwas leistet.
Ich weiß noch, wie der vierjährige Andreas einmal die Fliesen der Tankstelle geputzt hat. Da kam ein Bekannter vorbei und fragte: »Na, Andreas, was bekommst du denn dafür?«
»Mein täglich Brot«, hat der Kleine da geantwortet.
Wer mehr haben will, muss auch mehr leisten, haben wir unseren Kindern immer gesagt. Deswegen mag mein Mann es nicht, wenn er auf Festlichkeiten angehauen wird: »Der Ludwig, der kann doch einen ausgeben!« Dann sagt er immer: »Leute, ihr hättet jetzt auch so viel haben können wie ich.« Man muss aber ehrgeizig und diszipliniert sein, und man muss Verantwortung übernehmen.
ERINNERN GEGEN SCHWEIGEN
M anche halten es bis heute für einen moralischen Skandal, wie sich die Westdeutschen in den 1950er Jahren in Aktionismus flüchteten und den Blick zurück verweigerten. Der Publizist Ralph Giordano sprach sogar von einer zweiten Schuld, die breite Teile der Deutschen auf sich geladen hätten, als sie leugneten, abwehrten, als sie NS-Belastete wieder in Ämter kommen ließen, sich nicht zur Schuld bekannten und der Opfer deutscher Terrorherrschaft nicht gedachten.
Hannah Arendt, die Philosophin, die Deutschland wegen ihrer jüdischen Herkunft 1933 hatte verlassen müssen, konstatierte das eigenartige Amalgam von Arbeitswut, fehlender Erschütterung und Abwehr bereits bei einem Besuch in Deutschland 1949/50. »Beobachtet man die Deutschen, wie sie geschäftig durch die Ruinen ihrer tausendjährigen Geschichte stolpern und für die zerstörten Wahrzeichen ein Achselzucken übrig haben, oder wie sie es einem verübeln, wenn man sie an die Schreckenstaten erinnert, welche die ganze übrige Welt nicht loslassen, dann begreift man, dass die Geschäftigkeit ihre Hauptwaffe bei der Abwehr der Wirklichkeit geworden ist.« 113 Es herrschten Gleichgültigkeit, Apathie, eine allgemeine Gefühllosigkeit, eine offensichtliche Herzlosigkeit. In einem Brief an ihren Mann machte Arendt ihrem Befremden Luft. »Die Sentimentalität bleibt einem im Halse stecken, nachdem sie einem erst in die Kehle gestiegen ist«, heißt es da. »Die Deutschen leben von der Lebenslüge und der Dummheit. Letztere stinkt zum Himmel.«
Auch der Schriftsteller Paul Schallück meldete deutlich sein »Unbehagen« an der westdeutschen Gesellschaft an: Sie weiche der
Vergangenheit aus, statt sie bewusst anzunehmen. »Man kennt ja die Fälle, wo Menschen verdrängen, was ihnen unbequem ist. Man kennt aber auch die Fälle, wo das Verdrängte eines Tages mit umso verderblicherer Gewalt wieder aufsteht … Ein schlechtes Gewissen und die Vergangenheit lassen sich wohl kaum auf die Dauer durch neue Fabriken, gehobenen Lebensindex, durch blühenden Export, Souveränität und
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