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Endlich wieder leben

Endlich wieder leben

Titel: Endlich wieder leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helga Hirsch
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mit. Wenn wir einen Wagen abschleppen mussten, habe ich das kaputte Auto hinten schon gelenkt, bevor ich einen Führerschein besaß. Mein Mann drehte sich immer nur um: »Kimmt se denn hinterher?« Wir konnten unsere Firma nur aufbauen, weil wir so zusammengehalten haben. Und das nun schon 56 Jahre lang.
    Arbeiten hatte ich von Kind an gelernt. Ich musste meiner Mutter früh zur Hand gehen, denn wir waren fünf Geschwister. Mehrere Jahre lang habe ich mit viel Geduld und Kraft auch eine spastische Cousine betreut, eine Zeitlang sogar bei meiner Tante gewohnt. Für mich war es selbstverständlich, dass die Familie zusammenhält und einer Verantwortung für den anderen übernimmt.
    Meinen Mann kenne ich seit der Schulzeit. Er ist ein Jahr älter als ich, Jahrgang 1929. Wir saßen in derselben Klasse zusammen, weil in der Volksschule immer zwei Schuljahre zusammengelegt wurden. Damals ist er mir eher unangenehm aufgefallen. In der Kriegszeit wurde doch ununterbrochen gesammelt: Altpapier für Munitionsverpackung, Knochen für Schmieröl, Schrott und Altmetalle für Waffen. Für jeden Abfallstoff hatte der Lehrer einen verantwortlichen Schüler benannt. Wir hatten also einen »Lumpenkönig«, einen »Eisenkönig«, und Ludwig war der »Papierkönig«. Einmal hatte ich das Papier für die Sammlung vergessen. Da hielt er mich
vor dem Klassenzimmer so lange fest, bis ich wenigstens eine Seite aus meinem Heft herausgerissen und »gespendet« habe. Er war damals schon gewissenhaft und beharrlich.
    Wir kannten uns erst nur flüchtig, denn wir wohnten an entgegengesetzten Enden unserer Stadt. Angefreundet haben wir uns erst nach dem Krieg. Da fuhren wir mit demselben Zug nach Marburg. Ludwig war Lehrling in der Autowerkstatt von Fritz Herrmann, ich ging in Marburg in eine Schneiderlehre. So sah man sich täglich, manchmal sah man sich auch an, manchmal wechselte man sogar ein paar Worte miteinander.
    Da spürte ich schon, dass mich etwas zu ihm hinzog. Zum Jahresbeginn 1949 übernahm ich daher, Tante Lina einen Neujahrsweck vorbeizubringen. Ich wusste nämlich, dass Ludwig mit seiner Bagage ein Stockwerk höher Neujahr feierte. »Kind, was willste denn auf der Feier?«, versuchte mich Tante Lina festzuhalten. Sie war so stolz, dass sie mir Kaffee anbieten konnte, Kaffee aus Kaffeesatz zwar, einen zweiten Aufguss, aber immerhin Bohnenkaffee. Er stammte aus den Essenresten, die ein Bauer regelmäßig aus der Kantine der amerikanischen Soldaten abholte und unter den Neustädter Bürgern verteilte. Mir stand allerdings nicht der Kopf nach Kaffee. So schnell wie möglich verabschiedete ich mich und schlich ein Stockwerk höher. Woher ich manchmal den Mut nahm, weiß ich nicht. Jedenfalls platzte ich in die Gruppe hinein, und obwohl mir das Herz klopfte, fragte ich möglichst unschuldig: »Gibt es hier nicht mal Damenwahl?« So haben wir das erste Mal miteinander getanzt.
    Ludwig konnte gut tanzen. Er hatte es im Nachbardorf gelernt und wusste, wie man sich dreht, auch wenn er das Drehen nur mit Stühlen gelernt hatte. Der Tanzlehrer war nämlich der Meinung, die Jungen dürften erst auf die Mädchen losgelassen werden, wenn sie die gröbsten Tollpatschigkeiten überwunden hätten. Wir tanzten also, trafen uns danach manchmal, etwas Festes war das aber noch nicht. Einmal saß ich in einem Film mit Marika Rökk, ich glaube, es war die Csárdásfürstin . Ludwig kam zu spät, doch obwohl neben mir ein Platz frei war, setzte er sich zu Mädchen aus seiner Nachbarschaft.
Er sagte, er hätte mich nicht gesehen, aber mir hat das einen Stich versetzt.
    Dann hörten die gemeinsamen Zugfahrten auf. Ich blieb zu Hause und nähte für die Leute im Ort. Die Zeiten waren hart. Die meisten trennten alte Sachen auf, reinigten sie und ließen umarbeiten. Aus abgelegten Kleidern, Jacken und sogar Wehrmachtsmänteln machte ich modische Kostüme und Röcke. Einmal nähte ich sogar ein Brautkleid. Doch bald machte ich Schluss mit der Schneiderei. In der Strickhandschuhfabrik von Gottfried Michael konnte ich mehr Geld verdienen. Michael, ein Hüne von einem Mann, war aus dem Erzgebirge abgehauen und hatte in Neustadt eine neue Firma gegründet. Ludwig kannte ihn, weil er seinen alten Käfer manchmal in die Werkstatt nach Marburg mitnahm, um ihn zu reparieren oder das Öl zu wechseln. Als Ludwig den Michael daher fragte, ob er noch Arbeit für mich hätte, gab der Handschuhfabrikant gleich dem Meister Bescheid, dass die »Braut vom Dippel« arbeiten

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