Endlich wieder leben
aufgeregt. »Die Industrie nimmt uns die Arbeitskräfte weg!«, haben sie gesagt. »Die Industrie macht uns kaputt.« Sie wollten den Bürgermeister stürzen. Das wiederum hat die Unternehmer mobilisiert. Ergee-Chef Rössler hat sogar mit Erpressung gearbeitet: Er würde der Stadt die versprochenen 80 000 Mark nur spenden, wenn der Bürgermeister im Amt bleibe. Er hat gedroht, seine Produktion zu verlegen.
Weil sie Angst vor dem Verlust ihrer Arbeitsplätze hatten, sind Mitte November 1955 über tausend Menschen vor das Rathaus gezogen. Wir haben noch Fotos davon. Einige Ergee-Arbeiter haben sogar die Stadtverordnetenversammlung gestürmt. Sie sollen die Abgeordneten mit Flüchen und Schlägen aus dem Raum getrieben und die Treppe hinuntergeworfen haben. Um die Lage zu beruhigen, wurde das Überfallkommando aus Kassel angefordert. Später standen die sogenannten Rädelsführer wegen Hausfriedensbruch vor Gericht. Ludwig und viele andere aus Neustadt sind nach Marburg zur Verhandlung gefahren. Der Saal im Landgericht war bis auf den letzten Platz besetzt. Damals haben wir uns gewundert, dass die CDU gegen die Unternehmer auftrat. Ludwig ist Mitte der 1960er Jahre selbst CDU-Mitglied und sofort Stadtrat geworden. Doch er hat sich nie gegen die modernen Zeiten ausgesprochen.
Unser eigener Start in die Selbstständigkeit war ziemlich holprig. Aral suchte in Neustadt ein Gelände für eine Tankstelle und einen Pächter dazu. Ludwig wäre der Richtige, hat sein ehemaliger Chef Fritz Herrmann gesagt und ihn empfohlen. Auch wir konnten uns das gut vorstellen. Aral wollte den Bau der Tankstelle übernehmen, wir sollten das Grundstück erwerben. Wir nahmen also wieder einmal einen Kredit auf und kauften das vorgesehene Gelände. Gerade waren wir neue Besitzer, da erklärte Aral, der Platz sei doch nicht optimal, pachtete ein anderes Grundstück in einer anderen Straße, und wir saßen da mit unseren Schulden. Ludwig war tief gekränkt und verärgert.
Ein paar Monate später rief Fritz Herrmann an: Ludwig solle am nächsten Tag zu ihm nach Marburg kommen. Als Ludwig eintraf, saßen schon Vertreter von Aral im Büro: »Wir würden uns freuen, wenn Sie doch als Pächter zur Verfügung stehen würden.« Ludwig war wütend, dass ihn sein Lehrherr noch einmal mit Aral-Leuten zusammenführte, obwohl er wusste, dass Aral ihn hatte sitzen lassen. Sie hätten viel Gutes über ihn gehört, erklärten die Herren von Aral nun aber versöhnlich, sie könnten sich eine Zusammenarbeit vorstellen. Doch Ludwig war bockig und sagte nein. Da bat ihn Herrmann hinaus und wusch ihm ordentlich den Kopf: Ob er noch recht bei Trost sei? Von so einem tollen Anfang hätte er, Herrmann, nicht einmal träumen können. »Kriegst eine Tankstelle hingestellt und sagst nein?? So eine Chance hätte ich gern gehabt. Wenn du das nicht annimmst, trete ich dir in den Arsch.« Sagte es, drehte sich um, zog Ludwig hinter sich her ins Büro und erklärte den Leuten von Aral: »Er macht es.«
Am 5. Juli 1960, unserem fünften Hochzeitstag, eröffneten wir die Aral-Tankstelle in der Marburger Straße. Gut zwei Wochen später zogen die ersten Soldaten in die Ernst-Moritz-Arndt-Kaserne in Neustadt ein. Das westdeutsche Parlament hatte die Wiederbewaffnung beschlossen. Das war unser Glück, denn dadurch erhielten wir viele Kunden. Im ersten Jahr haben wir die Tankstelle allein geschmissen, dann stellten wir einen Lehrling ein. Nach zwei Jahren
beschäftigten wir zusätzlich drei Gesellen für die kleine Werkstatt, die Ludwig schon ohne Meisterbrief betreiben durfte. Als wir 1966 die VW-Vertragswerkstatt eröffneten, waren es bereits acht Mitarbeiter: zwei Bürokräfte, zwei Lehrlinge und vier Gesellen. Bis 1998, als wir den Betrieb an unsere Kinder übergaben, sind wir auf 28 Mitarbeiter angewachsen. Heute hat die Firma dreißig Mitarbeiter. Wir haben nie einen richtigen Einbruch erlebt. Es ging immer nur aufwärts. Aber es war schwer.
Zu Anfang habe ich die Tankstelle fast ganz allein geschmissen. Ein Mann von Aral hat mir beigebracht, wie man aus Benzin und Öl die richtige Mischung für Mopeds herstellt, wie man einen Ölwechsel vornimmt, Luftdruck prüft und Luft aufpumpt. Das war ja nicht so wie heute, wo jeder seinen Tank selbst füllt und die Scheiben wäscht. Damals kurbelte der Fahrer das Fenster runter und erklärte einfach: »Mach voll!«, und ich machte voll, wusch die Scheiben und prüfte den Ölstand. Oft saß ich bis gegen 22 oder 23 Uhr in der
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