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Endlich wieder leben

Endlich wieder leben

Titel: Endlich wieder leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helga Hirsch
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Tankstelle. An Herbst- oder Winterabenden konnte es passieren, dass ich einnickte, wenn keine Kundschaft kam. Es war so schön warm im Laden und draußen schon verdammt kalt. An manchen Abenden erledigte ich auch noch die Büroarbeiten. Die ganzen ersten Jahre war ich auch für die Buchhaltung zuständig, erst dann haben wir dafür eine Kraft eingestellt.
    Ich hatte Glück, dass ich mich so auf meine Mutter stützen konnte. Zeitweilig hat sie bei uns gewohnt und sich um die beiden Kinder gekümmert, die wir schon hatten. Manchmal schaute sie abends auch noch bei mir vorbei, weil sie wusste, dass ich Angst hatte, wenn ich allein in der Tankstelle saß. Ich hatte doch Geld in der Kasse. Es hätte doch jemand vorbeikommen und mich ausrauben können.
    Ich habe dann schnell den Führerschein gemacht, damit ich beweglich werde. Danach konnte ich auch Ersatzteile in Marburg besorgen und die Autos auf den Zulassungsstellen in Ziegenhain, Marburg oder Alsfeld anmelden. Diese Behördengänge haben mich allerdings sehr viel Nerven gekostet.

    In unserer »Wagenpflegestation« mit Hebebühne, in der wir kleinere Reparaturen und Inspektionen durchführen durften, gab es immer viel Arbeit. Am schlimmsten war es, wenn der erste Schnee fiel. Da kamen sie alle auf einmal und wollten ihre Reifen wechseln. Diese Prozedur war nicht so leicht wie heute, wo jeder Autobesitzer ein Paar Winter- und ein Paar Sommerreifen einschließlich Felgen hat. Damals mussten die Sommerreifen von den Felgen ab- und die Winterreifen auf die Felgen aufgezogen und neu ausgewuchtet werden. Und wie es in kleinen Orten so ist: Manchmal stand jemand noch nach 22 Uhr vor der Tür. »Ludwig, kannste mir das nicht noch machen?« Dann fluchte Ludwig schon mal, aber er machte.
    Der normale Feierabend galt für uns nicht. Samstags standen in der Regel dreißig bis vierzig Autos zum Waschen auf dem Hof. Wie im Akkord haben Ludwig und sein Geselle die Fahrzeuge gereinigt und gewachst, und zwar alles mit der Hand! Eine Waschstraße gab es doch noch nicht. Der Geselle ging mittags nach Hause, Ludwig machte weiter. Und ich half und putzte die Fenster und Frontscheiben, wenn vorn an der Tankstelle gerade kein Betrieb war. Selbst samstags sind wir abends nur selten vor zehn Uhr nach Hause gekommen.
    Oft mussten wir auch noch spät raus, um Fahrzeuge abzuschleppen, die sich nicht mehr lenken oder bremsen ließen. Ich fuhr immer mit, einer allein konnte das nicht. Wir hängten dann den Abschlepphund an unser Auto, eine gummibereifte Achse mit einem Träger drauf, und zogen die Vorderräder des kaputten Fahrzeugs mit einer Seilwinde hoch, bis sie auf dem Träger einrasteten. Schwieriger wurde es, wenn sich nur die Hinterräder hochhieven ließen. Dann konnte es passieren, dass das Auto ganz schön ins Schlingern geriet.
    Die Wagenpflegestation hat Ludwig allerdings nicht befriedigt. Er wollte eine richtige Werkstatt. Also fuhr er jede Woche zwei Abende und jeden Samstag nach Kassel, um seinen Meister zu machen. Wenn ich dann mit dem Gesellen allein blieb, hatte ich nicht selten über Dinge zu entscheiden, von denen ich überhaupt nichts
verstand. Woher sollte ich wissen, was das Richtige war, wenn der Motor im Auto von X. streikte? Ließ sich der alte Motor noch reparieren? Oder brauchte er einen Austauschmotor? Lohnte sich die Ausgabe noch? Und hatte der Besitzer überhaupt das nötige Geld?
    Man musste also Verantwortung übernehmen, man musste fleißig sein und sparsam leben. Das Gemüse haben wir selbst im Garten angebaut. Die Kleider für die Kinder habe ich auch selbst genäht, an Wochenenden und manchmal auch nachts; die Stoffe stammten aus einem Laden für Restposten. Es kam immer nur Margarine auf den Tisch. Und unseren ersten Urlaub haben wir 1979 gemacht. Für zwei Wochen sind wir da ein paar Hundert Kilometer weiter nach Bayrischzell gefahren. Wie es in Italien aussieht, haben wir uns von unseren Kunden erzählen lassen. Vor dem Urlaub kamen sie, um ihr Auto durchchecken zu lassen, nachher kamen sie, um uns begeistert von der Sonne, dem Strand und dem Essen zu erzählen und einen Vino rosso vorbeizubringen.
    Wirklich verbessert hat sich unsere Situation erst Mitte der sechziger Jahre, als Ludwig seine Meisterprüfung bestanden hatte und einen selbstständigen Handwerksbetrieb führen durfte. Er ließ eine große Werkstatthalle bauen und erhielt – wieder einmal dank der Verbindung zu seinem Marburger Lehrmeister – eine VW-Vertragswerkstatt. Damals schenkte uns

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