Endlich wieder leben
Strafen Amnestie gewährt wird.«
Als eines seiner ersten Gesetze verkündete der Bundestag Ende 1949 ein Straffreiheitsgesetz, von dem auch Zehntausende nationalsozialistischer Täter profitierten. Es folgte im Mai 1951 das »131er-Gesetz« (nach Art. 131 des Grundgesetzes), das jedem aus dem öffentlichen Dienst Entlassenen (einschließlich der Berufssoldaten) einen Anspruch auf Wiedereinstellung einräumte, sofern er beim Entnazifizierungsverfahren nicht als Hauptschuldiger oder Belasteter eingestuft worden und nicht Mitglied der Gestapo, des SD oder der SS gewesen war. Schließlich amnestierte ein zweites Straffreiheitsgesetz vom Sommer 1954 Gewalt- und Tötungshandlungen im Dienste der NS-Diktatur zwischen Oktober 1944 und Juli 1945, wenn die Strafe nicht höher war als drei Jahre. 117
Von den Nazi-Größen, so urteilt der Historiker Edgar Wolfrum, habe politisch keiner in der Bundesrepublik überlebt, aber die mittlere Garnitur habe durchgängig schnell ihren Platz im neuen Staat gefunden. »Jedenfalls waren es die Funktionseliten des Dritten Reiches, welche die Bundesrepublik bis in die 70er Jahre hinein gestalteten und von deren Wandlungs- und Lernfähigkeit einiges abhing.« 118
Westdeutschland als Land der Kriegsverbrecher, als post- oder kryptofaschistisches Land hinzustellen, wurde denn auch eine der wichtigsten Propagandakeulen der DDR gegen den westlichen Konkurrenten. Die Sowjetisch Besetzte Zone hatte ihrerseits bis zum Ende der Entnazifizierung im Frühjahr 1948 mehr als eine halbe Million Personen aus ihren Stellungen entfernt und durch Kommunisten und Antifaschisten ersetzt. 119
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Die mittlere Funktionselite aus dem NS-System war in der Bundesrepublik wieder schnell in Amt und Würden. Nur selten regte sich Empörung. Doch als NS-Belastete in Neumünster im März 1955 als »Opfer der Entnazifizierung« anerkannt werden wollten und öffentlich nach Rehabilitierung verlangten, versuchten Gewerkschafter die Polizeiabsperrungen zu durchbrechen, um die Kundgebung zu stören.
In der britischen Zone hingegen waren schon Mitte 1948 mehr als vier Fünftel der Richter an Landgerichten ehemalige NSDAP-Mitglieder, 1949 gab es einen entsprechend hohen Anteil unter den Richtern und Staatsanwälten in Bayern. Durch Verschleppung von Verfahren, Blockade von Untersuchungen, durch äußerst großzügige Freisprüche und schnelle Entlassungen von Kriegsverbrechern setzte dieses Personal faktisch eine Generalamnestie durch.
Einer der wenigen, die sich dagegen stemmten, war Fritz Bauer. 1903 als Sohn jüdischer Eltern in Stuttgart geboren, hatte er unter der Nazi-Diktatur acht Monate in einem Konzentrationslager gesessen, war danach in die skandinavischen Länder emigriert und 1949 nach Deutschland zurückgekehrt. Als Generalstaatsanwalt in Braunschweig übernahm er 1952 den Prozess gegen Generalmajor a. D. Otto Ernst Remer, den Kommandeur des Berliner Wachbataillons, der am 20. Juli 1944 führend an der Niederschlagung des Staatsstreichs gegen Hitler beteiligt gewesen war. Remer, in der Bundesrepublik Mitbegründer der neo-nazistischen Sozialistischen Reichspartei (SRP), hatte den Widerstand der Gruppe um Claus Graf Schenk von Stauffenberg als Landesverrat diffamiert und den Überlebenden angedroht, sie würden dereinst vor ein deutsches Gericht gestellt.
Zwei Rechtsauffassungen prallten in dem Prozess aufeinander, Auffassungen, die sich durch die ganze Nachkriegsgeschichte zogen und nach dem Ende der DDR erneut debattiert werden würden. Auf der einen Seite stand die Riege jener, die sich ohne jede Einschränkung auf das Rückwirkungsverbot beriefen (Nulla poena sine lege – keine Strafe ohne Gesetz): Niemand könne für eine Tat bestraft werden, die zum Zeitpunkt ihrer Ausführung nicht gegen das Gesetz verstieß. Danach war die Verurteilung der Männer des 20. Juli rechtens, da sie mit dem versuchten Tyrannenmord ihren Offizierseid gebrochen hätten. Fritz Bauer hingegen argumentierte mit dem »übergesetzlichen Recht« gegen das »gesetzliche Unrecht«. Ein »Unrechtstaat«, der täglich Zehntausende von Morden begehe,
berechtige jedermann zur Notwehr. Schon der ehemalige Reichsjustizminister Gustav Radbruch hatte in einem berühmten Aufsatz aus dem Jahre 1946 die Meinung vertreten, Schandgesetze von Unrechtstaaten, die nicht der Gerechtigkeit und den Menschenrechten entsprächen, könnten für den Richter nicht verbindlich sein.
Der Remer-Prozess gilt als Markstein der westdeutschen
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