Endlich wieder leben
Justizgeschichte, weil er das Gericht zwang, das NS-Regime als Unrechtstaat zu verwerfen 120 und die Widerstandskämpfer vom Vorwurf des Hochverrats und Eidbruchs freizusprechen. 121 Bundespräsident Theodor Heuss machte sich für eine Rehabilitierung der Attentäter stark. »Hier wurde in einer Zeit«, erklärte er bei einer Gedenkfeier 1954, »da die Ehrlosigkeit und der kleine, feige und darum brutale Machtsinn den deutschen Namen besudelt und verschmiert hatte, der reine Wille sichtbar, im Wissen um die Gefährdung des eigenen Lebens den Staat der mörderischen Bosheit zu entreißen und, wenn es erreichbar, das Vaterland vor der Vernichtung zu retten.«
In der Bevölkerung stieß diese Auffassung noch auf erhebliche Skepsis. In einer Umfrage des Instituts für Demoskopie in Allensbach (1951) missbilligten dreißig Prozent der Befragten das Attentat auf Hitler, unter den Berufssoldaten waren es sogar 59 Prozent. Männer wie Claus Graf Schenk von Stauffenberg oder Henning von Tresckow galten, so die Meinungsforscher Elisabeth Noelle und Erich Peter Neumann, weithin als »Hochverräter, Landesverräter, Volksverräter oder Staatsverräter. Weiter wird ihnen Feigheit vorgeworfen, gelegentlich auch Egoismus« – für die Familien der zum Tode verurteilten Widerständler oft eine bittere Erfahrung.
In der Bremer Schulklasse, in der Vera (Veruschka) von Lehndorff, Tochter des am 4. September 1944 in Plötzensee hingerichteten Heinrich Graf von Lehndorff, nach der Flucht aus Ostpreußen untergekommen war, erklärte die Lehrerin eines Tages, in dieser Klasse befände sich die Tochter eines Mörders. »Die Schülerinnen sahen sich fragend an. ›Wer sollte dieses Mädchen sein?‹ Und wie wir wieder nach vorn blickten, zeigte die Lehrerin mit dem Finger auf mich: ›Du da, du bist es!‹ Das war ein furchtbarer Schock. Alle
hielten den Atem an und starrten mich an. Ich rannte hinaus, … lief, so schnell ich konnte, über den Hof, dann weinend nach Hause. Als ich meiner Mutter erzählte, was vorgefallen war, sagte sie: ›Es ist ganz anders. Dein Vater ist ein Held, aber das ist eine lange Geschichte, die ich dir erst erzählen kann, wenn du größer bist. Ich verspreche dir, du musst nie wieder diese Schule betreten.‹« 122
Als Gottliebe von Lehndorff den Töchtern erstmals den Abschiedsbrief ihres Mannes vorzulesen versuchte, wurde das »zu einem einzigen Geschluchze. Sie weinte und wir weinten mit ihr. Die Zusammenhänge verstanden wir nicht. Hingerichtet? Es war alles viel zu viel. Sie schaffte es nicht, den Brief zu Ende zu lesen. Es war ein trauriger Nachmittag voller Tränen und Hilflosigkeit – und danach legte sich über alles wieder das Schweigen.« 123
Um die Renten mussten einige Witwen der Hingerichteten jahrelang kämpfen. Aus dem inneren Zirkel der Nazi-Gegner gab es zwar Hilfe, beispielsweise entstand das »Hilfswerk 20. Juli 1944«, und Gottliebe von Lehndorff wurde finanziell soweit unterstützt, dass die Familie nie Hunger litt, nie wie Ausgebombte wohnen musste und sich immer ein Kindermädchen halten konnte. Andererseits war die Solidarität nicht einmal in den eigenen, den Adelskreisen ungeteilt. Als Gottliebe von Lehndorff die Bismarcks anrief, »rührten sie sich nicht. Sie hatten große Besitzungen, es wäre ein Leichtes gewesen, uns zu helfen. Doch die Vorbehalte überwogen. Meine Mutter wurde gemieden, weil man ihren Mann als Verräter betrachtete. Bei den meisten wagte sie gar nicht erst anzurufen, die hätten gleich wieder aufgelegt.«
Der Unterschied zwischen Vaterland und Diktatur existierte nicht. Hoch- und Landesverrat hatten nach Ansicht großer Teile der Bevölkerung angeblich all jene begangen, die wie die Widerstandskämpfer ihren Eid gegenüber einem Unrechtsregime gebrochen, wie das Nationalkomitee Freies Deutschland Wehrmachtssoldaten zum Desertieren aufgerufen, wie die Emigranten ihr Vaterland »im Stich gelassen« hatten oder gar wie Marlene Dietrich vor fremden (US-)Truppen aufgetreten waren. Verräter waren all jene, die gegen
den Grundsatz »right or wrong – my country« verstoßen und sich nicht – treu bis in den Tod – mit in den Untergang hatten ziehen lassen. Emigration war Feigheit, Fahnenflucht war unentschuldbar. Noch 1960 erklärte Kai-Uwe von Hassel, CDU-Ministerpräsident von Schleswig-Holstein, in Anspielung auf den Emigranten Willy Brandt, man könne seine »Schicksalsgemeinschaft« nicht einfach verlassen, wenn es einem persönlich gefährlich
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