Endlich wieder leben
materielles Wohlbefinden verdrängen … Vielleicht müssen wir erst den Taumel der materiellen Befriedigung überstehen, bevor wir hellsichtig, hellhörig werden und das Notwendige tun? Vielleicht. Aber es ist nicht mehr viel Zeit. Es ist schon sehr spät. Die Vergesslichkeit greift um sich, legt sich wie Nebel lähmend auf das Land und macht uns das Atmen schwer.« 114
Den großen Durchbruch in der Debatte über die »unbewältigte Vergangenheit« brachte aber erst der Essay von Alexander und Margarete Mitscherlich über Die Unfähigkeit zu trauern im Jahre 1967. 115 Wochenlang stand das Buch auf den Bestsellerlisten. Den Hauptgrund für die Abwehr der Vergangenheit sahen die Psychoanalytiker in der großen Selbstentwertung, die die Deutschen nach dem Scheitern ihres Führers erlitten hätten. Hitler war ihr Ich-Ideal, von ihm hatten sie sich leiten lassen, ihm die Verantwortung übertragen. Als dieses »innere Objekt« wegbrach, als Deutschland besiegt und der Verbrecher entlarvt wurde, gingen mit dem Führer auch die Ideale derer unter, die sich ihm verschrieben hatten. Statt aber aus dem »Rausch« aufzuwachen und sich der Realität zu stellen, so die Psychoanalytiker, würden die Deutschen in der »Haltung permanenter Kindhaftigkeit« verharren und Schuld, Scham und Trauer ebenso kollektiv verdrängen, wie sie sich zuvor kollektiv dem Führer anvertraut hätten.
Die Verdrängung beeinflusste nach Meinung von Alexander und Margarete Mitscherlich nicht nur die Auseinandersetzung mit dem Dritten Reich; sie beeinflusste auch das aktuelle Verhalten, da es politische Apathie und Verweigerung hervorbrachte. Trauer um den geliebten »Führer« (und nicht, wie später gemeinhin interpretiert, die Trauer um die Opfer der Deutschen) war deshalb für die
Psychoanalytiker notwendige Voraussetzung auch für die Überwindung des »psychosozialen Immobilismus« in der Bonner Republik.
Der Essay von Alexander und Margarete Mitscherlich erwies sich als Meilenstein in der Entwicklung dessen, was inzwischen als Vergangenheitsbewältigung firmiert. Die Psychologen fragten nicht nach der Schuld besonders exponierter Nazi-Größen, sondern in erster Linie nach der Schuld und der Verantwortung des »kleinen Mannes«, der sein Ich beim Eintritt in die große Volksgemeinschaft aufgegeben hatte und für die Folgen keine Haftung zu übernehmen bereit war.
Kurz nach Kriegsende hatte die Situation noch anders ausgesehen. In einer Umfrage von Ende 1946 hatten gut sechzig Prozent der Deutschen eine Mitschuld am Hitler-Regime eingeräumt und fast sechzig Prozent hatten auch bejaht, dass Deutschland Millionen hilfloser Europäer gefoltert und ermordet habe. 116 Die Mehrheit der Deutschen stimmte anfangs auch der Entnazifizierung zu, wie sie von den Alliierten beschlossen und zügig in Angriff genommen worden war. Mehrere hunderttausend Personen verloren ihre Stellungen und Ämter, nachdem mit Hilfe eines 131 Positionen umfassenden Fragebogens ihre Verstrickung in das NS-Regime festgestellt worden war.
Mit zunehmendem Abstand zum Krieg stieg allerdings die Unzufriedenheit mit der Entnazifizierung. Selbst ehemalige Nazi-Gegner wie Martin Niemöller und Eugen Kogon sprachen sich für eine möglichst schnelle Beendigung der Verfahren vor den Spruchkammern aus. Auch außenpolitische Gründe ließen es geraten erscheinen, der Rehabilitierung von Belasteten – und das hieß auch ihrer Integration – den Vorrang vor ihrer Strafverfolgung und ihrer gesellschaftlichen Ächtung zu geben. Im beginnenden Kalten Krieg formte sich ein neues Bündnis. Die »Freiheit gegen den Bolschewismus« zu verteidigen wurde nun das einigende Band zwischen den westlichen Alliierten und Westdeutschland, und gerade »Ehemalige« konnten oft auf alte antikommunistische Positionen verweisen.
1950 wurde die Entnazifizierung offiziell beendet. Von den rund 3,6 Millionen Fällen, die vor den Spruchkammern verhandelt worden waren, war es nur bei zehn Prozent zu einem Urteil gekommen, lediglich etwa ein Prozent der Betroffenen wurde tatsächlich bestraft.
Durch die Denazifizierung sei »viel Unglück und viel Unheil« angerichtet worden, behauptete Konrad Adenauer in seiner Regierungserklärung vom 20. September 1949. »Es wird daher die Frage einer Amnestie von der Bundesregierung geprüft werden, und es wird weiter die Frage geprüft werden, auch bei den Hohen Kommissaren dahin vorstellig zu werden, dass entsprechend für von alliierten Militärgerichten verhängte
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