Endlich wieder leben
erscheine, und ihr wieder beitreten, wenn das Risiko vorüber sei.
Jene, die ihrem Land in der Zeit der Verirrung die »Treue« gehalten hatten, glaubten mehr Recht zur Neugestaltung des Landes zu besitzen als jene, die das Land angeblich im Stich gelassen hatten. Noch 1961, als der 1933 aus Deutschland geflohene Hermann Kesten die Verleihung eines Literaturpreises an Ina Seidel kritisierte, da sie sich mit einem Hitler-Gedicht kompromittiert hätte, schrieb Hans Werner Richter, Spiritus Rector der Gruppe 47, an Ina Seidels Sohn: »Kesten ist Jude, und wo kommen wir hin, wenn wir jetzt die Vergangenheit untereinander austragen, d.h. ich rechne Kesten nicht uns zugehörig (!), obwohl er es so sieht.«
Die fünfziger Jahre waren eine Dekade, in der sich die Deutschen selbst vor allem als Opfer sahen: Opfer der Konferenz von Potsdam, wodurch Deutschland gespalten wurde und die Ostdeutschen unter totalitäre sowjetische Herrschaft gerieten, Opfer der Siegerjustiz von Nürnberg, als Nicht-Deutsche über Deutsche richteten, Opfer einer dunklen, anonymen Schicksalsmacht, einer »dunklen Epoche«, die unendlich viel Leid über »die Menschheit« gebracht hatte.
Wenn sie einem Gesprächspartner erklärt habe, dass sie Jüdin sei, so Hannah Arendt bei ihrem Aufenthalt in Westdeutschland 1950, sei in der Regel keine persönliche Nachfrage gekommen, »sondern es folgt eine Flut von Geschichten, wie die Deutschen gelitten hätten«. Oft sei der Gesprächspartner noch dazu übergegangen, »die Leiden der Deutschen gegen die Leiden der anderen aufzurechnen, womit (er) stillschweigend zu verstehen gibt, dass die Leidensbilanz ausgeglichen sei«.
Die Leiden der Deutschen wurden aus dem historischen Kontext gelöst, der Zusammenhang von Ursache und Wirkung aufgehoben, der Unterschied zwischen Opfern und Tätern verwischt. Die Schuld an den Verbrechen trug nun eine kleine Gruppe von Verblendeten und Kriminellen mit einem Wahnsinnigen an der Spitze: Hitler, »ein aus der Tiefe hervorgegurgelter Dämon«. 124 Der Normalbürger hingegen wurde zum Verführten oder ein zum Gehorsam Gezwungener, den das Leben bestraft hatte.
Eine exponierte Stellung als Opfer nahmen auch die rund acht Millionen Vertriebenen in Westdeutschland ein. Deutschland existierte auf Landkarten und in den Atlanten weiter in den Grenzen von 1937, sämtliche Parteien sprachen sich gegen die Anerkennung der Oder-Neiße-Linie als polnischer Westgrenze aus, die Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost-Mitteleuropa wurde zum wissenschaftlichen Großprojekt, Geschichten von Vertriebenen flimmerten über die Leinwand. Klaus von Bismarck löste auf dem evangelischen Kirchentag in Leipzig 1954 heftige Proteste aus, als er in seiner Rede erklärte: »Es ist meine persönliche Meinung – die einige von Ihnen vielleicht nicht übernehmen können –, dass wir vor Gott kein Recht darauf haben, das wieder zu erhalten, was er uns genommen hat.« Die deutschen Heimatvertriebenen verzichteten in ihrer Charta von 1950 zwar auf Rache und Vergeltung, beanspruchten für das Leid der Flüchtlinge und Vertriebenen aber den obersten Platz in der Opferhierarchie: »Die Völker der Welt sollen ihre Mitverantwortung am Schicksal der Heimatvertriebenen als der vom Leid dieser Zeit am schwersten Betroffenen empfinden.«
Auch die Regierung machte Unterschiede zwischen deutschen und jüdischen Opfern. Die ehemaligen Kriegsgefangenen, die im Jahre 1955 aus der sowjetischen Haft zurückkehrten, erhielten 300 DM Entschädigung je Monat Gefangenschaft, die KZ-Insassen gerade einmal die Hälfte, und das meist nur nach langwierigen Verfahren. »Nicht, dass wir dem Heimkehrer das Seine missgönnen«, schrieben jüdische Verfolgte an den Hamburger Senat, aber »wir sehen den Unterschied gegenüber der Wiedergutmachung«. 125
Die Deutschen besaßen mit den gut 100 000 Kriegerdenkmälern aus dem Ersten Weltkrieg rituelle Orte, an denen sie ihrer Toten gedenken konnten – die Namen der Gefallenen aus dem Zweiten Weltkrieg wurden häufig hinzugefügt, und nach dreijähriger Pause wurde 1948 der Volkstrauertag in Westdeutschland wieder eingeführt. Für Juden, Zwangsarbeiter, Sinti, Roma und andere wurden nur vereinzelt Gedenkstätten in ehemaligen Konzentrationslagern oder Hinrichtungsstätten geschaffen.
Für die Opfer der Deutschen fehlte fast jedes Mitgefühl. »Das kann doch kaum jemand hören!«, mokierte sich ein Schriftsteller der Gruppe 47, als der aus Czernowitz stammende
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