Endlich wieder leben
»Finanzkapital« mehr, das jene monopolkapitalistische Wirtschaft hätte fortführen können, die schon einmal zum Faschismus geführt hatte. Dass im Zuge der Entnazifizierung in der DDR nicht nur ehemalige NSDAP-Mitglieder ihre Positionen verloren, sondern auch politische Gegner des neuen Systems ausgeschaltet wurden, dass rechtsstaatliche Verfahren häufig ignoriert, Parteien gleichgeschaltet
und demokratische Freiheiten beschränkt wurden, erschien vielen zwar beklagenswert, aber: Wo gehobelt wird, da fallen Späne. 137 »Man hätte Antifaschisten bekämpfen müssen, um den Stalinismus zu bekämpfen«, erklärte der Regisseur Frank Beyer am Ende der DDR die eigentümliche Loyalität gegenüber einem Staat, der im Namen des Antifaschismus selbst totalitären – stalinistischen – Terror ausübte. Die »antifaschistische Leimrute«, so auch der Schriftsteller Günter Kunert, hätte ihn lange »flugunfähig, fluchtunfähig« gemacht. Erst 1979 nutzte er ein mehrjähriges Visum, um der DDR den Rücken zu kehren.
Sogar noch ein Teil der zweiten Generation fühlte sich gefangen durch die antifaschistische Identitätsstiftung. »Wichtig scheint mir«, schrieb die 1952 geborene Psychotherapeutin Annette Simon, Tochter von Christa Wolf, »dass die Loyalität zur DDR, die uns ja wirklich eingehämmert wurde, … irrationale, fast könnte ich sagen mystische Dimensionen hatte … Ich glaube, dass die Leiden, welche die herrschenden Antifaschisten in der Zeit des Nationalsozialismus hatten erdulden müssen, einen solchen Widerhall in mir fanden, dass ich meinte, diesen Staat niemals verlassen zu dürfen, obwohl ich ihm als eine zeitweise sogar ›konspirativ arbeitende Oppositionelle‹ unversöhnlich gegenüberstand. Erst jetzt wird mir bewusst, dass sich meine Loyalität zur DDR tatsächlich auf die tief gefühlte Solidarität mit den Opfern des Faschismus gegründet hat, auf das Erleben einer Art Erbschuld.« 138
Annette Simon wurde von den Eltern regelrecht mit Antifaschismus gefüttert. Schon früh las sie Anna Seghers’ Roman Das siebte Kreuz , der die Flucht von sieben Häftlingen aus einem Konzentrationslager schildert, von denen nur einer nicht wieder eingefangen wird. Der Roman war Pflichtlektüre in der DDR. Sie las Nackt unter Wölfen von Bruno Apitz , der eine Widerstandsgruppe im KZ Buchenwald schildert, die ein Kind versteckt. Auch dieser Roman war Pflichtlektüre in der DDR. »Die Geschichten von den gemordeten Antifaschisten waren die Heldensagen der DDR«, weiß Annette Simon, »(die Ermordung von Millionen Juden war dabei
nur ein Nebenthema), und die Überlebenden erfüllten ein ideelles Vermächtnis – schon deshalb mussten sie im Recht sein.«
Der KPD-Führer Ernst Thälmann, den Hitler nach über elf Jahren Einzelhaft im August 1944 erschießen ließ, wurde zur herausgehobenen Identifikationsfigur. Die Jungen Pioniere wurden in ihrem Gelöbnis auf ihn verpflichtet, jede Schulkasse sah die beiden Teile des 1954 gedrehten, pathetischen historisch-dokumentarischen Defa-Films Ernst Thälmann – Sohn seiner Klasse , im KZ Buchenwald wurde ihm die erste Gedenktafel der Gedenkstätte gewidmet.
Indem sich die DDR als Nachfolgerin der Widerstandskräfte verstand, katapultierte sie sich auf die Seite der Sieger. »Jeder Bürger der DDR«, so der Schriftsteller Stephan Hermlin im Rückblick, »konnte sich nun als Sieger der Geschichte fühlen.« Selbst ehemalige Nazis und Mitläufer profitierten davon, zumal den nominellen NSDAP-Mitgliedern im August 1947 die bürgerlichen und politischen Rechte zurückgegeben wurden. Wenn zukünftig der Aufbau des Staates im Vordergrund stehen sollte, so Parteichef Walter Ulbricht Ende Januar 1948, »können wir nicht zu gleicher Zeit die Entnazifizierung weiterführen. Denn wir müssen an die ganze Masse der Werktätigen appellieren, auch an die nominellen Nazis, an die Masse der technischen Intelligenz, die Nazis waren. Wir werden ihnen offen sagen: Wir wissen, dass Ihr Nazis wart, wir werden aber nicht weiter darüber sprechen, es kommt auf Euch an, ehrlich mit uns mitzuarbeiten.«
Infolge dieser pauschal gewährten Entschuldung waren die Individuen von jeder kritischen Auseinandersetzung mit ihrem Verhalten in der NS-Zeit befreit. »Die Strategie der Kommunisten war äußerst erfolgreich«, urteilt die Politikwissenschaftlerin Antonia Grunenberg. »Sie bestraften die oberen Nazi-Funktionäre und gewährten den Mitläufern Entlastung, indem sie sie zur
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