Endlich wieder leben
Bewährung im neuen Staat aufforderten. Sie verlangten Mitarbeit am neuen Gemeinwesen, aber keine Selbstverantwortlichkeit, und kamen damit der postnazistischen Mentalität entgegen. Sie delegierten einen großen Teil der Schuld an das ›kapitalistische Wirtschaftssystem‹ und seine Führer und unterstützten damit eine von
vielen gehegte Vorstellung, die Deutschen seien Opfer gewissenloser Kapitalisten geworden, die sich mit ›den Faschisten‹ verbündet hätten.« 139
Nach dem Abschluss der Entnazifizierung entstand in der DDR für zwei Jahre die groteske Situation, dass Nazi-Mitläufer zur Integration in das neue Staatswesen aufgefordert wurden, während ähnlich gering oder gar nicht Belastete nach wie vor ohne Gerichtsurteil in den Internierungslagern saßen.
Nach einer parteiinternen Statistik zählte die SED Ende 1953 durchschnittlich 8,5 Prozent ehemalige NSDAP-Mitglieder, weitere sechs Prozent hatten einer nationalsozialistischen Gliederung angehört. In einigen Landesverbänden kamen Mitglieder der NSDAP und weiterer ihr angeschlossener Verbände auf bis zu 35 Prozent. Doch »persönliche Faschismusbewältigung war in der DDR seit den 50er Jahren kein erwünschtes Thema mehr, das irgendwelche öffentliche Resonanz finden konnte und sollte«, schrieb der DDR-Historiker Olaf Groehler. »Auf diese Weise konnten Millionen von Deutschen in der DDR aus dieser Verantwortung flüchten.« 140
Die Rassenideologie des Nationalsozialismus fand in der kommunistischen Faschismustheorie keine Berücksichtigung beziehungsweise wurde ausschließlich als Manipulationsinstrument der Arbeiterklasse betrachtet. Dem Genozid an den Juden wurde in der DDR und den anderen kommunistischen Staaten keine besondere Bedeutung zugemessen. Im Zentrum der öffentlichen Wahrnehmung standen Widerstandskämpfer, Kommunisten und Antifaschisten. Allein dem Tod von »politischen Kämpfern« im KZ wurde ein Sinn zugesprochen, sie galten als Wegbereiter des Sozialismus. »Durch Sterben und Kämpfen zum Sieg« lautete das entsprechende Motto der Nationalen Mahn- und Gedenkstätte Buchenwald, die Ministerpräsident Otto Grotewohl am 11. September 1958 auf dem Ettersberg bei Weimar einweihte. Von der »Nacht des Faschismus« über die Station der »kämpferischen internationalen Solidarität« führte der Weg zur »Selbstbefreiung der Häftlinge« in dem »befreiten Teil Deutschlands«.
Im Unterschied zu den Kämpfern galten »Bibelforscher, Zigeuner, jüdische Leute« als »reine Opfer«, Schafe, die sich zur Schlachtbank hatten führen lassen. Entsprechend der Hierarchisierung wurden für Kämpfer, Verfolgte und Teilverfolgte verschiedene Ausweise ausgegeben und die Höhe der Renten gestaffelt. »Vom Status als ›Verfolgte des Naziregimes‹ habe auch ich noch profitiert«, schrieb Barbara Honigmann, die 1949 in eine jüdische Familie in Ost-Berlin geboren wurde, »denn diese Art der ›Wiedergutmachung‹ bezog auch die Kinder der Verfolgten mit ein und sicherte ihnen zum Beispiel während des Studiums ohne weitere materielle Kriterien das Höchststipendium von 206 Mark und den Anspruch auf eine Wohnung.« 141
Allerdings war der Status eines »Verfolgten des Naziregimes« an politisches Wohlverhalten gebunden. »1951, während einer der zahlreichen Kampagnen gegen Sozialdemokratismus, Kosmopolitismus und Zionismus, sahen sich die jüdischen Genossen dann vor die Wahl gestellt, entweder Mitglied der Jüdischen Gemeinde oder der Partei zu sein, da die eine Mitgliedschaft die andere ausschließe. Und weil sie sich nicht der Verdächtigung aussetzen wollte, eine zionistische Agentin zu sein, trat meine Mutter wie die meisten ihrer Freunde … aus der Jüdischen Gemeinde aus … Diese ›Wahl‹ zwischen der Jüdischen Gemeinde und der SED war nur eine der zahlreichen Unterwerfungsgesten, die man den Genossen abverlangte, besonders, wenn sie aus dem westlichen Exil zurückgekehrt waren.«
Westemigranten standen seit Ende der vierziger Jahre im Verdacht, Kontakte mit dem amerikanischen Geheimdienst gehabt zu haben. Paul Merker, der 1946 aus dem mexikanischen Exil zurückgekehrt war, und weitere, auch jüdische Genossen wurden aus der Partei ausgeschlossen, andere verhaftet und zum Teil zu hohen Gefängnisstrafen beziehungsweise zu Zwangsarbeit verurteilt. Merker war zwar kein Jude, aber er hatte sich abweichend von der Linie der SED für die finanzielle Entschädigung von Juden ausgesprochen, selbst wenn sie im Ausland lebten (angeblich
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