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Endlich wieder leben

Endlich wieder leben

Titel: Endlich wieder leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helga Hirsch
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jüdische Lyriker Paul Celan im Mai 1952 auf einer Sitzung seine »Todesfuge« vortrug, jenes inzwischen berühmte Gedicht, in das seine traumatischen Erlebnisse in einem Arbeitslager eingeflossen waren. »Der liest ja wie Goebbels!« , kommentierte ein anderer, und Tagungsleiter Hans Werner Richter vermeinte einen Singsang wie in einer Synagoge zu hören. Die »Todesfuge«, so schilderte es Walter Jens, war »ein Reinfall«. Trotz späterer Einladungen hat Paul Celan nie mehr an einer Sitzung der Gruppe 47 teilgenommen.
    Juden, die überlebt hatten, lösten ein schlechtes Gewissen aus, weil sie auf den millionenfachen Mord verwiesen, der eine Größenordnung besaß, die nicht vorstellbar war und von dem angeblich niemand etwas gewusst hatte. Juden, die emigriert waren, lösten ein schlechtes Gewissen aus, weil sie vor Augen führten, dass das Leben in der Nazi-Diktatur nicht unausweichlich gewesen war, sondern dass es eine Alternative zum Mitmachen gegeben hatte – nicht nur für Juden, sondern auch für »arische« Deutsche.
    »Verstehen Sie mich recht«, schrieb Hans Werner Richter in einem Brief an den Schriftsteller Rudolf Walther Leonhardt, »ich mag jene politisch bramarbasierenden Juden nicht, die nur aus rassischen (!) und nicht aus politischen Gründen seinerzeit Deutschland verließen. Sie haben keine Berechtigung, politisch zu verzeihen.« 126 Ein Deutscher, der sich in Hitlers Kriegsmaschinerie hatte einbinden lassen, wollte sich von einem Geschädigten, der dem Tod
glücklicherweise entronnen war, nicht beurteilt sehen: »Wer kann und darf verzeihen? Nun, nach meiner Ansicht niemand, weder die Juden noch die politisch Verfolgten, noch sonst jemand, der unter dem Dritten Reich gelitten hat. Niemand kann sich dieses Recht anmaßen.«
    Von den rund 100 000 Menschen, die bis 1941 aus Deutschland und Österreich in die USA emigrierten, kehrte nicht einmal jeder zwanzigste aus rassischen Gründen Verfolgte nach Europa zurück. 127 Sie fühlten sich nicht willkommen in Westdeutschland.
    Vorherrschend wurde das Schweigen.
    Die Einen schwiegen, um ihre Schuld zu vertuschen. Menschen hatten Verbrechen befohlen und begangen, hatten sich in Unrecht hineinziehen lassen und zu Unrecht geschwiegen, hatten vom Elend der Verfolgten profitiert und als Pflichterfüllung ausgegeben, was Mord war. Diese Schuld reichte von den strafbaren Taten der Kriegsverbrecher, die von den Siegermächten und später der deutschen Justiz abgeurteilt wurden, bis zu der metaphysischen Schuld der »Zuschauer«, 128 die die Verbrechen hatten geschehen lassen. »Wir Überlebenden haben nicht den Tod gesucht. Wir sind nicht, als unsere jüdischen Freunde abgeführt wurden, auf die Straße gegangen, haben nicht geschrien, bis man uns vernichtete«, schrieb der Philosoph Karl Jaspers. »Wir haben es vorgezogen, am Leben zu bleiben mit dem schwachen, wenn auch richtigen Grund, unser Tod hätte nichts helfen können. Dass wir leben, ist unsere Schuld. Wir wissen vor Gott, was uns tief demütigt.« 129
    Andere schwiegen, weil sie dem Grauen zu entfliehen hofften.
    Viele waren traumatisiert: Insassen der Gettos, Häftlinge in den Konzentrationslagern, Juden im Versteck, Emigranten, die aus der Heimat vertrieben waren und Fremde in der Fremde blieben. Sie vergruben das Erlebte tief in der Seele, weil die Erinnerung an übermächtige Gewalt und übermächtige Umstände sie vollständig überfordert hätte. »Man darf nicht daran denken, sonst wird man verrückt«, schrieb die Mutter der Journalistin Sibylle Krause-Burger, die dank eines arischen Ehemanns überlebte. 130

    Jean Améry, Häftling von Auschwitz, Buchenwald und Bergen-Belsen, fand erst nach zwanzig Jahren Worte für das Erlebte. »Ich kann nicht sagen, dass ich in der Zeit der Stille die zwölf Jahre des deutschen und meines eigenen Schicksals vergessen oder ›verdrängt‹ hätte«, schrieb er 1966 zur Herausgabe seines Buches Jenseits von Schuld und Sühne . »Ich hatte mich zwei Jahrzehnte lang auf der Suche nach der unverlierbaren Zeit befunden, nur, dass es mir schwer gewesen war, darüber zu sprechen.« 131
    Immerhin setzte Konrad Adenauer mit den Stimmen der SPD-Opposition eine Wiedergutmachung für die jüdischen Opfer durch gegen die Mehrheit der westdeutschen Bevölkerung, in der laut einer Umfrage des Allensbacher Instituts für Meinungsforschung im August 1952 nur elf Prozent ihre Zustimmung signalisierten. Im Luxemburger Abkommen wurden 1952 Warenlieferungen an Israel im

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