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Endlich wieder leben

Endlich wieder leben

Titel: Endlich wieder leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helga Hirsch
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Wert von drei Milliarden DM und die Zahlung von 450 Millionen DM an die Jewish Claims Conference vereinbart. Die Bundesentschädigungsgesetze von 1953 und 1956 regelten die individuellen Entschädigungen von Opfern nationalsozialistischer Verfolgung, und mit elf westeuropäischen Staaten schloss die Bundesrepublik zwischen 1959 und 1964 Globalabkommen ab. 132
    Ende der 1950er Jahre begann sich das Klima langsam zu ändern. Auslöser und Wendepunkt war der Ulmer Einsatzgruppenprozess 1958. Als der SS- und Polizeiführer Bernhard Fischer-Schweder auf Wiedereinstellung im Land Baden-Württemberg klagte, kam heraus, dass er als Polizeidirektor von Memel zwischen Juni und September 1941 an der Massenerschießung von jüdischen Kindern, Frauen und Männern im litauisch-deutschen Grenzgebiet beteiligt gewesen war. Im ersten großen Prozess gegen nationalsozialistische Täter vor einem deutschen Strafgericht wurden er und weitere neun Angeklagte in Ulm zu Zuchthausstrafen zwischen drei und fünfzehn Jahren verurteilt; Bernhard Fischer-Schweder erhielt wegen Beihilfe zum gemeinschaftlichen Mord in 526 Fällen zehn Jahre Zuchthaus.
    Das Thema der Judenvernichtung gewann große öffentliche Aufmerksamkeit. Anfang der fünfziger Jahre war das Tagebuch der Anne
Frank in Deutschland erschienen, aber noch weitgehend unbeachtet geblieben; 1958 erreichte es eine Auflage von einer halben Million.
    Da sich im Rahmen des Ulmer Verfahrens Hinweise auf weitere Verbrechen in den von Deutschland besetzten Ländern ergaben, wurde in Ludwigsburg die »Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen« geschaffen und mit Vorermittlungen für die Staatsanwaltschaft über Verbrechen gegen die Zivilbevölkerung vor allem außerhalb von Deutschland beauftragt. Die Zahl der Ermittlungsverfahren stieg spürbar an, und die Haltung in der Bevölkerung veränderte sich. Im August 1958 sprach sich die Hälfte der Befragten gegen einen Schlussstrich und für die Bestrafung von NS-Tätern aus; und die Hälfte der Befragten gab Deutschland auch die Schuld am Ausbruch des Krieges – 1951 waren es erst 31 Prozent gewesen. 133
    In jener Zeit rückte der Mord an den Juden langsam in den Mittelpunkt der Erinnerung. Es war noch einmal Fritz Bauer, der, inzwischen Generalstaatsanwalt in Frankfurt am Main, wesentlich zu diesem Wandel beitrug. Dank seiner Hinweise wurde die Festnahme des SS-Obersturmbannführers Adolf Eichmann durch den israelischen Geheimdienst in Argentinien möglich; Israel verurteilte Eichmann in einem spektakulären Prozess wegen »Verbrechen gegen die Menschheit« zum Tode. Auf Initiative Bauers leitete die Staatsanwaltschaft des Landgerichts Frankfurt am Main auch Ermittlungsverfahren gegen vormalige Angehörige der SS-Besatzung von Auschwitz ein. Sechs Angeklagte wurden 1965 zu lebenslangen Zuchthausstrafen verurteilt, einer zu zehn Jahren Jugendstrafe und zehn zu Freiheitsstrafen zwischen dreieinhalb und vierzehn Jahren.
    Viele Beobachter empfanden die Strafen als empörend niedrig. Die eigentliche Bedeutung des Prozesses lag aber weniger im individuellen Strafmaß als in der Tatsache, dass weit über 300 Zeugen die Gräueltaten und den Massenmord im Detail schilderten. Niemand konnte mehr sagen, er wisse nichts vom Völkermord an den Juden.

    Während sich in den folgenden Jahrzehnten im kollektiven Bewusstsein der Deutschen eine eindeutige Verurteilung des Dritten Reichs vollzog, dauerte im privaten Erinnern das Schweigen teilweise noch lange an. Entweder führten pauschale Beschuldigungen der zweiten Generation zu einer Verhärtung der Eltern, so dass die Spaltung in den Familien vertieft wurde. Oder Söhne und Töchter stellten gar keine konkreten Nachfragen und Nachforschungen an, weil sie fürchteten, abgepresste Geständnisse könnten sich als unerträgliche Belastung für das Eltern-Kind-Verhältnis herausstellen. 134
    Die 1943 geborene Ute Althaus beispielsweise begann Haltungen und Taten ihres Vaters in der NS-Zeit erst nach seinem Tod zu rekonstruieren – Anfang der 1990er Jahre, da war sie bereits fünfzig Jahre alt. Ernst Meyer, Jahrgang 1895, war noch Ende März 1945 zum Kampfkommandanten von Ansbach ernannt worden. Nur wenige Stunden vor dem Einmarsch der Amerikaner ließ er ein Standgericht bilden und den neunzehnjährigen Robert Limpert wegen landesverräterischer Umtriebe zum Tode verurteilen. Limpert hatte den Bürgermeister zur Übergabe der Stadt an die Amerikaner

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