Endlich wieder leben
Freund meines Bruders wegen Befehlsverweigerung erschossen wurde. Ohne Mitgliedschaft im BDM war ich allerdings an den Rand der Klasse gedrängt, es fehlte mir sehr eine Gruppe, zu der ich hätte gehören wollen und dürfen. Also flüchtete ich in die Welt der Literatur und zu ihren Helden. Da war und blieb ich zu Hause.
Manchmal empfand ich eine Art elitärer Befriedigung darüber, inmitten lauter Verblendeter klar zu sehen. Dabei war durchaus nicht immer alles klar, und die Zukunft vor allem war ungewiss. Ich erinnere mich meiner zwiespältigen Gefühle beim Fall von Stalingrad: Wie alle Antifaschisten wünschte ich die baldige Niederlage der Wehrmacht herbei, aber würde denn die Niederlage weniger lebensbedrohlich sein, auch für meinen Bruder und seine Freunde?
Wir erlebten den Krieg in Dresden. Nach den verheerenden Luftangriffen vom 13. Februar 1945 breitete sich eine dumpfe Untergangsstimmung in der Stadt aus. Wut und Hass der Menschen richteten
sich allerdings immer noch nicht, wie wir gehofft hatten, gegen die Verursacher des Krieges, gegen Hitler und die Nazis, sondern gegen die Engländer und Amerikaner. Wir selbst waren von den Angriffen verschont geblieben, wir wohnten in einem Vorort. Aber ich sah die Elendskolonnen von Ausgebombten und Flüchtlingen an unserem Haus vorbeiziehen. Im April wankte dann noch eine Schar von etwa hundert ausgemergelten Frauen in Häftlingskleidung durch unsere Straße, am Ende ein zweirädriger Tafelwagen, auf dem mehrere Frauen lagen, deren Zustand wohl hoffnungslos war. Das vernichtende Gefühl der Ohnmacht, auch der Scham, ihnen der eigenen Bedrohung wegen nicht zu helfen, habe ich nie vergessen.
Als der Krieg dann endlich vorüber war, herrschten bei uns grenzenlose Erleichterung und beflügelnde Triumphgefühle vor. Ich hatte Krieg und Nationalsozialismus überlebt, mich erhob das Gefühl aktiver Teilhabe an einer Zeitenwende, einer wirklichen Befreiung. Die zweimalige Plünderung unserer Wohnung konnte unserer Euphorie wenig anhaben; und Selbstmorde der Nazi-Größen unseres Ortes waren für uns nur die faktische Bestätigung des Endes ihrer Herrschaft. Über Berichte von Vergewaltigungen und Raub durch die sowjetischen Soldaten waren wir zwar betroffen und enttäuscht, aber unsere Hoffnungen knüpften sich an Stalins Worte, die damals auf vielen Transparenten zu lesen waren: »Die HITLER kommen und gehen, aber das deutsche Volk bleibt.«
Sozialisten und Kommunisten bildeten allerdings nur eine kleine Minderheit in der Bevölkerung; ihre Zahl schrumpfte noch durch die Erfahrungen mit der Roten Armee. Es ging also zunächst darum, die Erzieher zu erziehen, die künftigen Lehrer. Mit großem Engagement und mit Unterstützung der Sowjetischen Militäradministration wurde die Neulehrerbildung organisiert, angeleitet von Antifaschisten, die vielfach aus den Lagern und der Emigration zurückkehrten oder in der NS-Zeit aus politischen Gründen diskriminiert worden waren. Zu ihnen gehörte mein späterer Schwiegervater Dr. Wilhelm Heise, ein Berliner Gymnasiallehrer. Seiner jüdischen Ehefrau wegen war er zwangsemeritiert worden; nun wurde
er Dekan an der Pädagogischen Fakultät der Humboldt-Universität. Leider verstarb er bereits 1949.
Kurz überlegte ich, ob ich in die KPD oder in die SPD eintreten sollte. Es gab in beiden Parteien alte Vorbehalte gegen die jeweils andere – aus triftigen Gründen, aber auch aufgrund von Vorurteilen. Ich entschied mich für die Tradition des Elternhauses. Im September 1945, an meinem achtzehnten Geburtstag, wurde ich Mitglied der neu gegründeten SPD und trat auf Drängen der Partei in die alsbald gegründete FDJ ein. Zwar fand ich, mit achtzehn Jahren sollte man nicht mehr zu einer Jugendorganisation gehören. Aber ich sah ein, dass die FDJ viele Mitglieder haben musste, und zwar freiwillige. Ihre Funktionäre sollten die Hauptlast der Erziehung junger Menschen zu Antifaschisten und Demokraten tragen, zunächst allerdings deren Abkehr von noch massenhaft vorhandenen faschistischen Vorstellungen und Wertungen bewirken.
Im Dezember 1945 schickte mich die SPD-Landesleitung zu ihrem allerersten Schulungskurs nach Schloss Bieberstein bei Freiberg in Sachsen. Ich war die Jüngste dort, nahm begierig alles auf und galt als hoffnungsvoller Nachwuchs. Beherrschendes Diskussionsthema war die bevorstehende Vereinigung von KPD und SPD zur SED. Mein Vater hatte immer zum linken Flügel der SPD gehört und mir erklärt, die Spaltung der
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