Endspiel - Genie und Wahnsinn im Leben der Schachlegende Bobby Fischer
attraktiv finde. Sie fuhr fort: »Ich liebe Genies und Irre.« In welche Kategorie Bobby ihrer Ansicht nach gehörte, sagte sie aber nicht.
Am 2. September 1992 um exakt 15.30 Uhr querte Bobby die Bühne mit raschen Schritten, erreichte das Brett und gab Spasski die Hand. Er trug einen blauen Anzug und eine rot-weiße Krawatte, als wolle er seinen Patriotismus demonstrieren. Und um jeden Zweifel an seiner Vaterlandsliebe auszuräumen, hing auf seiner Seite des Tisches eine kleine amerikanische Flagge. Auf Spasskis Seite hing die Tricolore (Spasski war aus der UdSSR emigriert und hatte die französische Staatsbürgerschaft angenommen). Wie schon 1972 wurde die Begegnung der zwei Großmeister von Lothar Schmid geleitet. Als Schmid den Hebel drückte und die Schachuhr startete, ließ sich die Nostalgie im Zuschauerraum mit Händen greifen. Seit dem letzten Duell zwischen Fischer und Spasski waren 20 Jahre vergangen, doch die drei Protagonisten wirkten fast unverändert, wenn man von einigen grauen Haaren, zusätzlichen Falten im Gesicht und ein paar Extrakilos um die Hüften einmal absah. Laugardalshöll hatte sich ins Hotel Maestral verwandelt, Island war Jugoslawien geworden, doch Bobby war noch immer Fischer, Boris noch immer Spasski. Und es wurde noch immer Schach gespielt.
Nach wenigen Minuten Spielzeit zog Bobby einen Lederschirm mit breitem Schild auf, sodass sein Gegenüber nicht sehen konnte, wohin er schaute. Wenn er am Zug war, zog Bobby den Schirm tief ins Gesicht und legte das Kinn an die Brust, fast als wäre er ein Pokerspieler, der sein Blatt vor neugierigen Blicken schützte.
Bobby hatte in den 20 Jahren keinerlei Rost angesetzt; er spielte noch genauso meisterlich wie 1972: aggressiv, unerbittlich, brillant mal von der einen Seite angreifend, mal von der anderen. Beide Seiten verloren Figuren.
Auf der ganzen Welt verfolgten Fans die Partie per Fax und Telefon, und beim 50. Zug klärte sich die Frage, die alle bewegte: Spasski gab auf. Der Großmeister Yasser Seirawan schrieb: »Ja, tatsächlich, Bobby ist zurück! Eine makellos geführte Partie. Präzis bis zum letzten Augenblick.« Medien, die Fischer noch am Vortag für seine Entgleisungen kritisiert hatten, mussten jetzt zugeben, dass er zumindest am Brett alles richtig gemacht hatte: »Das amerikanische Schachgenie spielte überzeugend und scheint in Topform.« Aber, um das Sprichwort zu paraphrasieren, eine gute Partie macht noch keinen Champion.
Während der zweiten Partie schien Bobby weiter vor Energie zu bersten … bis ihm beim 50. Zug ein kapitaler Fehler unterlief, der ihn den Sieg kostete. In der dritten Partie passierte ihm Ähnliches, wieder verschenkte er einen möglichen Sieg und erzielte nur ein Remis. Sein freimütiger Kommentar hinterher gewährte einen tiefen Einblick in seine Gemütslage: »Heute habe ich mir vielleicht eine Auszeit genommen. Ich hoffe , es war nur eine Auszeit. Ich hatte Probleme.« Der Schatten eines Zweifels begann an ihm zu nagen. Was, wenn die dritte Partie nun kein Ausrutscher gewesen war? Hatte er doch zu lange pausiert? Gab es den alten Bobby Fischer überhaupt noch? Doch es kam noch schlimmer, Bobby verlor die vierte und fünfte Partie. Würde der überaus sensible Bobby daran verzweifeln?
Unter den Zuschauern befand sich der ehrwürdige Andor Lilienthal, ein 81-jähriger ungarischer Großmeister. Zusammen mit seiner Frau war er von Budapest nach Sveti Stefan gereist, um das Duell zu verfolgen. Nach der vierten Partie trafen sich Lilienthal und Fischer im Hotelrestaurant. »Großmeister Lilienthal, das ist Bobby Fischer«, sagte die Person, die die beiden miteinander bekannt machte. Bobby platzte heraus: »Hastings 1934/35, Damenopfer gegen Capablanca. Brillant!«
Dieser Kommentar war insofern typisch für Bobby, als er Leute anhand ihrer Schachpartien einzuordnen tendierte. Andere Kriterien kannte er kaum. Noch Jahre später schüttelte Lilienthal den Kopf darüber, wie Bobby sich spontan an diese berühmte Partie erinnern konnte, die immerhin über ein halbes Jahrhundert zuvor stattgefunden hatte.
Nach dem Wettkampf schrieb Spasski:
Ich wollte nicht in erster Linie gewinnen, sondern Bobby wieder zu seiner Topform verhelfen. Die sechste Partie war kritisch. Ich spielte mit Weiß auf remis, doch Bobby spielte so schlecht, dass ich auf die Siegerstraße geriet. Was für eine Chance, mit drei zu eins Siegen davonzuziehen!
Würde Bobby eine solche Situation ertragen? Ich hatte keine Ahnung.
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