Endspiel - Genie und Wahnsinn im Leben der Schachlegende Bobby Fischer
persönlichen Gegenstände, die er jahrelang in Kalifornien eingelagert hatte, waren versteigert worden. Wenn die Morgendämmerung nahte, nahm Bobby sich schließlich Partien aus aktuellen Turnieren vor. Unter seinem geistigen Mikroskop suchte er nach Fehlern, Fehlinterpretationen und falschen Schlüssen – insbesondere »unerklärlichen«, an denen man seiner Ansicht nach Absprachen zwischen den Spielern erkennen konnte. Ihnen, den Dieben und Schummlern der Schachwelt, wollte er immer noch das Handwerk legen. Er las jede Partie wie einen Krimi, nur wollte er keine Mörder überführen, sondern Verschwörungen aufdecken.
Inzwischen hinkte Bobby übrigens so deutlich, dass einige Kollegen ihn ermahnten, zum Arzt zu gehen. Doch er misstraute den Doktoren immer noch so sehr, dass er damit wartete, bis die Qualen unerträglich geworden waren. Die Untersuchung ergab schließlich, dass Bobby an Orchitis litt, einer äußerst schmerzhaften Hodenentzündung. Beim Gehen versuchte er, die Hoden zu schonen, daher sein Hinken. Die Sache hätte sich mit Antibiotika schnell kurieren, der Schmerz sofort mit einem kleinen Schnitt lindern lassen. Doch Bobby verweigerte beides. Stattdessen machte er allen weis, sein Hinken sei auf eine alte Verletzung zurückzuführen (er hatte sich viel früher einmal das Bein gebrochen). Stoisch erduldete er den Schmerz einfach, bis die Entzündung von selbst wieder abklang. Das leichte Hinken allerdings behielt er bis zum Ende seines Lebens.
»Wie Adolf Hitler in Mein Kampf schrieb, sind die Juden nicht die Opfer, sondern die Täter!«, schwadronierte Bobby Fischer einmal live im Radio. Wie viele der zehn Millionen Ungarn an diesem 13. Januar 1999 Bobbys Hasstirade auf Calypso Radio hörten, ist unbekannt. Der Interviewer, Thomas Monath, wusste zudem nicht recht, was er tun sollte. Bobby das Mikrofon abdrehen? Ihn niederbrüllen? Er ließ ihn reden.
Pal Benko hatte auf Bobbys Wunsch hin beim Sender angefragt, ob man an einem Interview mit Bobby Fischer interessiert sei. Natürlich war man – schließlich wäre das Bobbys erstes Interview seit seinem Wettkampf 1992 gegen Spasski. Das Gespräch begann ganz harmlos, die Frage, warum Bobby in Budapest lebe, wurde höflich beantwortet (»Ich mag die Mineralbäder und die Leute; ihr habt hier eine tolle Stadt.«). Doch bald beschwerte sich Bobby über das seichte Geplänkel und verlangte, über wichtigere Dinge zu reden. Sollte die Welt seine antisemitischen Kommentare bei den Pressekonferenzen1992 überhört haben, jetzt hörte sie sie. Denn Livemitschnitte der Sendung fanden ihren Weg ins Internet und damit in die große weite Welt.
Auslöser für Bobbys fast schon hysterische Tiraden war diesmal die Versteigerung seiner persönlichen Gegenstände, die er in Kalifornien eingelagert hatte. Sein Agent Robert Ellsworth hatte nämlich versäumt, die 480 Dollar Miete für den Lagerraum in Pasadena zu bezahlen. »Der Inhalt war Zigmillionen oder gar Hunderte Millionen Dollar wert und wurde gestohlen«, schäumte Bobby. Dahinter stecke eine Verschwörung der Juden, wütete er. Monath versuchte das Interview noch zu retten und bat ihn: »Erlauben Sie mir ein paar freundliche Fragen über Schach?« »Nein, tu ich nicht!«, brüllte Bobby ihn an und polterte weiter. Die »Juden verfolgten« ihn, »der Holocaust ist nie passiert« und so weiter, das Ganze im übelsten Gassenjargon. Bobby brüllte das Unrecht in die Welt hinaus, das ihm seiner Ansicht nach widerfahren war. Schließlich platzte Monath der Kragen: »Mr. Fischer, Ihr Verstand ist völlig zerstört«, schloss er und drehte ihm das Mikrofon ab.
Dabei gab es an der ganzen Angelegenheit mit der Lagerräumung nichts Geheimnisvolles. Zehn Jahre lang hatte Bobby die Miete für ein Abteil mit Safe bezahlt, in dem Hunderte Erinnerungsstücke lagerten: der Gratulationsbrief von Präsident Nixon zum Gewinn der Schachweltmeisterschaft, die von der FIDE überreichte Weltmeistermedaille, Briefe, Partieformulare, Bilder, Trophäen, Statuen, Notizbücher, Fotos, Bücher, Krimskrams. Der vielleicht größte Verlust für die Schachwelt waren die Original-Partieformulare einer Reihe interessanter Simultanschaukämpfe, die Bobby in Südamerika bestritten hatte und über die er gerne ein Buch geschrieben hätte. Im Paket oder einzeln an Sammler verkauft, hätten allein die Partieformulare (laut Bobby waren es Tausende) etwa 100 000 Dollar gebracht.
Etwa 5000 Dollar im Jahr hatte Bobby seinem Agenten Ellsworth
Weitere Kostenlose Bücher