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Endspiel - Genie und Wahnsinn im Leben der Schachlegende Bobby Fischer

Endspiel - Genie und Wahnsinn im Leben der Schachlegende Bobby Fischer

Titel: Endspiel - Genie und Wahnsinn im Leben der Schachlegende Bobby Fischer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frank Brady
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Bedürfnis, ihren Horizont zu erweitern. Dann gehen sie auf eine Abendschule oder lernen aus Büchern. Auch Bobby begann sich aus einer gewissen Selbsterkenntnis heraus weiterzubilden. »Larry Evans sagte mal, ich wüsste nichts vom Leben, und er hatte recht«, erklärte Bobby. In anderer Stimmung gestand Bobby auch einmal, dass er Schach manchmal satthatte. Dennoch spielte er weiter: »Was hätte ich sonst tun sollen?«
    Bobbys Mangel an traditioneller Schulbildung war allgemein bekannt und wurde von der Presse oft wiedergekäut. Weniger bekannt war aber, dass Bobby sich seit dem Gewinn der Schachweltmeisterschaft im Alter von 29 Jahren systematisch fortbildete: Er verschlang Bücher der Gebiete Geschichte, Politik, Religion und Zeitgeschichte. Den Großteil der 33 Jahre zwischen seinen zwei Aufenthalten in Reykjavik hatte Bobby in seiner Freizeit gelesen. Da war eine Menge Wissen zusammengekommen.
    Mehrere Isländer staunten deshalb, wie tiefgründig man sich mit Bobby über verschiedenste Themen unterhalten konnte. Er kannte sich mit der Französischen Revolution aus und mit sibirischen Gulags, in der Philosophie Nietzsches und den Reden Disraelis.
    Im Anestu Grösum blieb er ungefähr zwei Stunden und las; nach der Hauptmahlzeit verputzte er normalerweise noch zwei Schüsseln skyr mit einem Berg Schlagsahne. Danach ging Bobby zu seiner Stamm-Buchhandlung, Bókin. Der leicht exzentrische Laden war der Traum aller Bücherwürmer: Vor dem Laden saß ein bebrillter Stoffaffe mit einem Buch im Schoß, im Laden stapelten sich Tausende Bücher, die meisten auf Isländisch, aber auch etliche auf Englisch, Deutsch und Dänisch. Viele Titel behandelten obskure Themen, für die sich nur wenige Leser begeistern konnten: die Brutgewohnheiten des Papageientauchers oder die Inschriften auf den Kirchen Heidelbergs. Die Buchregale zogen sich durch den gesamten Laden, in der Mitte des Raumes türmte sich ein fast mannshoher Bücherberg, von dem immer wieder Lawinen abgingen. Schachbücher führte der Laden aber nur wenige.
    Jeden Tag holte Bobby im Laden seine Post ab, die man hinter der Theke für ihn aufbewahrte. Er wechselte stets einige Worte mit dem Eigentümer, Bragi Kristjonsson, und zog sich an sein Plätzchen zurück, ganz hinten im Laden, am Ende eines schmalen Gangs, der seitlich noch mit Bücherstapeln und alten National Geographic -Heften zugestellt war. Vielleicht aus Respekt für seinen berühmten Kunden hatte Bragi einen gammligen Stuhl am Ende des Ganges platziert. Dort saß Bobby an einem kleinen Fenster zur Straße.
    Stundenlang, oft bis Ladenschluss, las und sinnierte er dort, manchmal nickte er ein. Hier war er zu Hause. »Es ist toll, frei zu sein«, schrieb er einem Freund.
    Am liebsten mochte Bobby Geschichtsbücher; er las alles von Aufstieg und Fall des Römischen Reiches bis zu Aufstieg und Fall des Dritten Reiches . Er verschlang Kriegsberichte aus dem antiken Griechenland wie aus dem Zweiten Weltkrieg, Verschwörungstheorien wie Hitler’s Secret Bankers: The Myth of Swiss Neutrality During the Holocaust ( Hitlers heimliche Banker: Der Mythos Schweizer Neutralität während des Holocaust ) und antisemitische Hetze wie Jewish Ritual Murder . War Bobby auf der Suche nach seinem Platz in der Geschichte? Vermutlich trieb ihn eher der Wunsch, den eigenen Charakter in all seiner Komplexität zu verstehen, »die ganze Katastrophe«, wie die Romanfigur Alexis Sorbas so treffend sagte.
    Kaum war Fischer in Island angekommen – er hatte noch kaum eine Chance gehabt, seine Koffer auszupacken; allerdings enthielten sie auch nur die wenigen Bücher und Kleidungsstücke, die er in Japan besessen hatte –, da kündigte Janos Kubat überraschend ein bevorstehendes Match zwischen Bobby und seinem Freund Pal Benko an. Kubat, der schon 1992 den Kampf Fischer–Spasski mitorganisiert hatte, erklärte gegenüber der russischen Nachrichtenagentur RIA, das Duell werde in Magyarkanizsa nahe der ungarisch-serbischen Grenze stattfinden, wo Bobby 1992 einige Monate lang gelebt hatte. Ein Sponsor sei bereits gefunden, behauptete Kubat. Es gab nur ein Problem: Bobby wusste nichts von diesem Kampf. Er und Kubat hatten sich 1993 im Streit getrennt und redeten seither nicht mehr miteinander. Vor allem aber hatte Bobby keinerlei Absicht, Island zu verlassen. Er fürchtete noch immer eine Auslieferung in die USA.
    Zur gleichen Zeit, zwei Wochen, nachdem man ihn in Island wie einen Helden empfangen hatte, bekam Bobby schon wieder

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