Endspiel - Genie und Wahnsinn im Leben der Schachlegende Bobby Fischer
Mittagessen zu ihren Arbeitsplätzen zurückeilten. Die Passanten erkannten Bobby: Er war der berühmteste Mann Islands, nicht wegen seiner öffentlichen Ausfälle gegen Amerika, sondern weil er das Land 1972 weltweit bekannt gemacht hatte. Doch sein eiskalter Blick schloss alle anderen aus, und die Menschen huschten mit gesenktem Kopf an ihm vorbei, als versuchten sie, ihr Gesicht vor dem bitterkalten Wind vom Esja herunter zu schützen. Knirschend drang der Schnee seitlich in Bobbys schwarze Birkenstock-Clogs.
Wie immer trug er die gleiche – wirkungslose – Verkleidung: Arbeitshemd und -hose aus blauem Jeansstoff, einen blauen Fleecepullover, einen halblangen schwarzen Ledermantel und eine dazu passende lederne Baseballkappe. Alles so ausgewählt, damit er unter seinen neuen Landsleuten nicht auffiel.
Die eleganten maßgeschneiderten Anzüge und sorgfältig gebundenen Krawatten gehörten der Vergangenheit an. Der Mann, der als Teenager stolz auf seine 18 Anzüge war und danach strebte, hundert weitere zu besitzen, trug nun jeden Tag das Gleiche. Selbst seine Freunde glaubten schon, er besitze nur einen einzigen Satz Kleidung. Dabei hatte er mehrere identische Sätze Hosen und Hemden, die er selbst wusch und bügelte, oft täglich, normalerweise spät nachts. Beim Bügeln sang er und achtete auf perfekte Bügelfalten. Als man ihn fragte, was die Leute wohl von seiner Garderobe hielten, antwortete er knapp: »Das ist ihr Problem.«
Im Zentrum von Reykjavik, einer bezaubernden Stadt von fast 120 000 Einwohnern, herrschte eine Atmosphäre wie in einem skandinavischen Klischeedorf. Der Besucher sah gewundene Straßen, gepflegte Häuschen mit Schindelfassaden und farbigen Dächern, kleine Läden und Souvenirshops sowie dick vermummte Passanten. Reykjavik ist zwar nicht direkt Aspen oder Gstaad, aber im Winter liegt genug Schnee, dass man auf den nahe gelegenen Bergen Ski fahren kann.
Eines seiner Lieblingsrestaurants, das Bobby oft besuchte, lag keine zwei Straßen weiter. Der kürbisfarbene Speisesaal des Anestu Grösum (»Der Erste Vegetarier«) lag im ersten Stock, man wählte das Essen an einer Theke; Bobby musste nur auf die gewünschten Speisen deuten. Die Serviererin hinter dem Tresen, die ein wenig der Schauspielerin Shelley Duvall ähnelte, reichte ihm lächelnd seine Mahlzeiten. Die Portionen waren riesig.
Wenn Bobby gewöhnlich nach 14 Uhr eintraf, saßen kaum mehr Leute im Restaurant. Vielleicht noch ein dänischer Hippie, ein amerikanisches Touristenpaar oder ein Trio tratschender Freundinnen. Bobby, das Gewohnheitstier, setzte sich immer an den gleichen Tisch, am Fenster zur Querstraße. Draußen würden bald Birken und Wacholder blühen. Zum Essen trank er eine Flasche Bio-Bier der Marke Oxford Gold. Nebenher las er. Besonders hatte es ihm der Artikel »Der Mythos vom Fortschritt« des finnischen Philosophen Georg Henrik von Wright angetan. Der pessimistische Autor war seinem Freund Ludwig Wittgenstein auf dessen Lehrstuhl in Cambridge nachgefolgt. Seine zentrale Frage lautete, ob all die materiellen und technologischen Fortschritte der modernen Gesellschaft tatsächlich Fortschritt darstellten. Der Text entsprach genau Bobbys Philosophie; ganz begeistert schenkte er seinem Freund Gardar Sverrisson eine isländische Übersetzung des Textes.
War das der gleiche Bobby Fischer, der angeblich nur Schach kannte, der mürrische Schulabbrecher aus Brooklyn? Er sah dem alten Bobby zwar körperlich ähnlich – die intelligenten Augen, der kleine Höcker am rechten Nasenflügel, die breiten Schultern, der mühelose Gang –, doch dieser Bobby Fischer war härter; ein älterer, dicklicher, kahl werdender Mann, der vom Leben gebeutelt wirkte. Irgendetwas an seinem Auftreten erinnerte den Beobachter an einen misshandelten Hund. Über seiner rechten Augenbraue ragte ein fingerkuppengroßer Höcker heraus. Bobby lächelte äußerst selten, vielleicht weil er sich seiner Zahnlücken schämte. Er sah auch nicht mehr in den Spiegel, weil ihm nicht gefiel, was aus ihm geworden war. Doch wirklich neu war, dass Bobby Fischer, der große Schachspieler, den viele für einen ungebildeten Klotz hielten, für einen, der außer einem Spiel nichts vom Leben kannte, eine philosophische Abhandlung las. (Der hoch angesehene Journalist Martin Gardner behauptete im Scientific American allen Ernstes einmal: »Fischer war fast schon ein Idiot.«)
In vielen Menschen ohne vernünftige Schulbildung erwacht später im Leben das
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