Endspiel - Genie und Wahnsinn im Leben der Schachlegende Bobby Fischer
Schachverrückte aus anderen Bundesstaaten und selbst aus dem Ausland zogen nach New York, nur um Mitglieder des Manhattan Chess Clubs zu werden, ihr Spiel zu verbessern und gegen die Großen ihrer Disziplin anzutreten. Für Schachspieler war der Club das, was das Paris der 1920er für Künstler gewesen war: eine Pilgerstätte, zu der man zog, um unter Anleitung der dort tätigen Meister seine Kunst zu perfektionieren. Der Club war Austragungsort von zwei Titelkämpfen um die Schachweltmeisterschaft gewesen (Steinitz-Zukertort 1886 und Steinitz-Gunsberg 1890/91), und seit den 1930ern wurde hier jährlich der amerikanische Meister ermittelt. Unter den Mitgliedern befanden sich weit überproportional viele Juden, was wohl daran lag, dass Schach bei Juden eine ungeheure Popularität genoss. Damals lebten in New York über eine Million Juden, die meisten von ihnen Immigranten. Und viele von ihnen hatten ihre Leidenschaft für Schach aus ihrer ehemaligen Heimat mitgebracht. 1974 mutmaßte Anthony Saidy in The World of Chess , dass »vielleicht jeder zweite Topspieler der vergangenen hundert Jahre Jude war.« Auf die Frage, ob er Jude sei, antwortete Bobby damals: »Teilweise. Meine Mutter ist Jüdin.«
Wenn, was selten genug vorkam, untertags keine angemessenen Gegner im Schachclub greifbar waren, wanderte Bobby in den Central Park und spielte dort an den Steintischen nahe der Wollman-Eislauffläche. Bei einem zum Verzweifeln langen Endspiel setzte einmal Regen ein, doch weder Bobby noch sein Gegner ließen sich davon abbringen, die Partie zu Ende zu spielen. Bobby war bald klatschnass, spielte aber unbeirrt weiter. Als er mit quietschenden Turnschuhen und klatschnassen Haaren nach Hause kam, hielt Regina ihm eine Standpauke. Doch ihr Zorn hielt nie lange an.
Der Schachclub Manhattan teilte die Mitglieder nach Spielstärke in vier Gruppen ein: Zur erlesenen Gruppe »A« gehörten die etablierten Spitzenspieler, dahinter folgte die »A-Reserve« mit vielversprechenden Spielern, dann »B« und schließlich »C«, das Sammelbecken für die schwächeren Spieler. Viele Mitglieder in den unteren Gruppen hofften darauf, sich nach oben zu spielen. Nach ein paar Wochen im Club meldete sich Bobby für ein Turnier der C-Spieler an und gewann es mühelos. So stieg er in die B-Gruppe auf. Dort spielte er so lange Turniere, bis er schließlich eines gewann und in die A-Reserve aufstieg. Schließlich, nach nicht einmal einem Jahr, setzte er sich auch in dieser Gruppe an die Spitze.
Bald ging er jeden Tag in den Club und blieb dort vom frühen Nachmittag bis spätabends. Im Sommer wollte Regina ihn wie gewohnt in ein Ferienlager schicken, doch Bobby weigerte sich rundweg. Für ihn war der Schachclub Manhattan das Paradies. Er konnte sich nichts Schöneres vorstellen, als den ganzen Sommer hindurch immer nur zu spielen. Der Schachclub Brooklyn traf sich nur Freitagabend und gelegentlich am Dienstag, für jeweils vier Stunden. Im Manhattan konnte Bobby zwölf Stunden täglich spielen, sieben Tage die Woche.
Das Spiel beschäftigte nicht nur Bobbys Verstand, es linderte auch seine Einsamkeit. Er fühlte sich lebendig, wenn er am Brett saß. In den Sommerferien stand er spät auf, lange nachdem Mutter und Schwester die Wohnung verlassen hatten, frühstückte in einem Imbisslokal und fuhr mit der U-Bahn nach Manhattan, zum Club. Regina sah jeden Tag nach dem Rechten und brachte ihm zum Abendessen in Alufolie gewickelte Leberwurst-Sandwiches und Milch. Ansonsten hätte Bobby, ganz in seine Partien versunken, wahrscheinlich schlicht vergessen zu essen. Jeden Tag kam sie gegen Mitternacht in den Club, schnappte sich den widerstrebenden Bobby und fuhr mit ihm die Stunde nach Hause.
In jenem Sommer und über die nächsten Jahre hinweg freundete sich Bobby mit etlichen Clubmitgliedern an. Anfangs waren diese Freunde in der Regel deutlich älter, doch mit der Zeit traten immer mehr vielversprechende junge Spieler in den Club ein (wobei nicht klar ist, ob der Club seine Aufnahmepolitik nach Bobbys Eintritt änderte oder ob die jungen Spieler kamen, weil schon ein Gleichaltriger dort spielte). Jedenfalls fand Bobby zunehmend auch gleichaltrige Kameraden. Viele von ihnen blieben lebenslange Freunde und Konkurrenten. William Lombardy, der später Juniorenweltmeister wurde und als Großmeister ins Pantheon einging, war sechs Jahre älter als Bobby und schlug ihn anfangs meistens. William war ein ehrgeiziger, hochintelligenter junger Mann mit einem
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