Endspiel - Genie und Wahnsinn im Leben der Schachlegende Bobby Fischer
ohne Brett und Figuren. Man musste sich die Stellung im Geist vorstellen und seine imaginären Züge verkünden. Doch nach acht, neun Zügen, als die Stellung komplexer wurde, kam Houghton durcheinander und musste aufgeben. Bobby hingegen sah die Partie so deutlich vor sich, als stünden die Figuren vor ihm. Nach ein paar weiteren Versuchen ohne Brett und Figuren gaben sie es auf und nahmen wieder das Reiseschach. Bobby gewann während der Seereise Dutzende schneller Partien und verlor keine einzige.
1956 war Havanna eine quirlige, durch und durch verkommene Stadt. Reiseveranstalter bewarben sie als »die Perle der Antillen«, andere nannten Havanna drastischer »die verruchteste Stadt der Welt«. Spielkasinos, Bordelle, offene Prostitution, Rum für 1,20 Dollar die Flasche – die Stadt hatte sich ihren üblen Ruf redlich verdient. In jenem Jahr besuchten über 250 000 Amerikaner Havanna, in der Regel für ein, zwei ausschweifende Wochenenden. Doch Laucks’ Gruppe war in erster Linie nach Kuba gekommen, um Schach zu spielen. Einige der Männer mögen zwar nächtens ins berüchtigte Shanghai Theater oder in einen anderen verrufenen Club gegangen sein, doch tagsüber spielten sie fast immer Schach.
Beim großen Duell mit dem Capablanca Chess Club bekam Laucks’ Truppe ihre Grenzen aufgezeigt: Bobby und Whitaker gewannen ihre Partien, doch alle anderen Teamkollegen verloren. Danach trat Bobby in einem Schaukampf simultan gegen zwölf Mitglieder des kubanischen Schachclubs an, »nur zum Spaß«, wie er schnell betonte. Er gewann zehn Partien, zwei endeten remis. Später fasste er seine Erfahrungen folgendermaßen zusammen: »Die Kubaner nehmen Schach sichtlich ernst … Diese Einstellung gefällt mir. Schach ist ein Kampf, und nur ein Sieg zählt. Sie denken genauso.«
Die New York Times brachte hinterher einen kurzen Bericht über die Schach-Tournee. Unter der Überschrift SCHACHTEAM BEENDET TOUR wurde Bilanz gezogen: Das Gesamtergebnis der Gruppe sei negativ gewesen, 23½ zu 26½. Whitaker und Bobby hätten aber deutlich besser abgeschnitten, mit einer Bilanz von jeweils 5½ zu 1½. Bobbys zehn Siege beim Schaukampf waren dabei noch gar nicht mitgerechnet.
Nach drei Wochen Abenteuer kehrte Bobby nur widerwillig nach Brooklyn und in die Schule zurück. Dennoch genoss er die vertraute Umgebung seiner Schule, wo er alle Freiheiten hatte, und freute sich, an den Nachmittagen wieder mit seinen Freunden vom Schachclub Manhattan spielen zu können. Jahre später meinte er, er habe seine Zeit am Community Woodward genossen. Das habe vor allem daran gelegen, dass es dort so ungezwungen zuging. So durfte man »aufstehen und im Zimmer herumgehen, wenn man wollte« und sich anziehen, wie man wollte (»normale Polohemden, Latz- oder Cordhosen«). Bobby genoss auch seinen Status als Vorzeige-Schachspieler der Schule. Am Ende hatte sich nicht Bobby an die Schule angepasst, sondern umgekehrt. Seine Abschlussfeier im Juni 1956, nach der achten Klasse, schwänzte er – warum sollte er für diese ihm verhassten »Förmlichkeiten und Zeremonien« einen Schach-Nachmittag opfern? Er war 13 und plante, den Sommer über Schach zu spielen und Theorie zu pauken. Die Aussicht, im September auf die Highschool zu kommen, ließ ihn – anders als die meisten seiner Mitschüler – völlig kalt.
Jack Collins war ein hervorragender Schachlehrer, das Wohnzimmer seiner Brooklyner Wohnung stand allen Schachfans jederzeit offen. Regelmäßig trafen sich dort Schachbegeisterte, um im Hawthorne Chess Club, wie sie ihn nannten, zu spielen. Wer mit Collins spielen – oder von ihm lernen – wollte, kam einfach vorbei. Collins gab auch Einzelstunden, manchen gratis, anderen gegen Bezahlung. Der Autodidakt Collins hatte ein riesiges Herz und einen gelegentlich überbordenden Sinn für Humor. Einige der besten Spieler Amerikas gingen bei ihm in die Lehre, etwa die Byrne-Brüder und William Lombardy. In Collins’ Wohnung drängten sich Hunderte Schachbücher, -gemälde und -skulpturen. Selbst Möbel und Decken hatten Schachmuster; man kam sich vor wie in einem Schachmuseum. Jack und Bobby waren sich bei der amerikanischen Amateur-Meisterschaft 1956 begegnet und hatten ein paar Worte gewechselt. Collins hatte den Jungen zu seinen Schachtreffen eingeladen, und zwei Wochen später schaute Bobby vorbei. Collins beschrieb diesen ersten Besuch:
An einem Nachmittag im Juni 1956 klingelte Bobby Fischer zum ersten Mal an meiner Wohnungstür. Ich
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