Endspiel - Genie und Wahnsinn im Leben der Schachlegende Bobby Fischer
längerer Zeit gemerkt, dass in Bobby ein Champion heranwuchs, und begonnen, die Original-Partieformulare des Wunderkinds zu sammeln wie frühe Rembrandt-Skizzen. Irgendwie muss Lawson es geschafft haben, Kmoch das Original-Partieformular der »Jahrhundertpartie« abzuschwätzen (vermutlich hat er bezahlt). Darauf stand in Kmochs großer Schrift rot das Ergebnis notiert: 0-1 (Niederlage für Byrne, Sieg für Fischer). Nach Lawsons Tod wechselte das Partieformular zweimal den Besitzer. Käme es heute zur Versteigerung, würde es geschätzte 100 000 Dollar erzielen.
Und was bekam Bobby vom amerikanischen Schachbund als Belohnung für seine funkelnde Brillanz? 50 Dollar.
An Bobbys 14. Geburtstag herrschte typisches Märzwetter. Es war trocken, kalt und windig, als Bobby an jenem Nachmittag die Central Park South Richtung Schachclub Manhattan entlangging. Vor ihm lag das wichtigste Match seiner knospenden Karriere, doch Bobby zitterte vor Kälte, nicht aus Nervosität. Er war froh, als er am gut geheizten Club ankam.
Dort wartete sein Gegner schon. Dr. Max Euwe, ein Niederländer, war 56 Jahre alt, konservativ gekleidet und deutlich über 1,80 Meter groß. Neben Bobby wirkte er wie ein Riese. Nicht nur vier Jahrzehnte trennten die beiden, sondern ganze Welten. Euwe war Doktor der Philosophie, Mathematiklehrer am Amsterdams Lyceum – und Ex-Schachweltmeister. 1935 hatte er den Titel errungen. Euwe war ein gelassener Mann der leisen Töne, ein reifer Großmeister und mit seinem analytischen, methodischen Stil ein typischer Vertreter der alten Garde. In seiner langen Wettkampfkarriere hatte er sich mit vielen Schachlegenden gemessen. Sein liebenswürdiges Auftreten täuschte übrigens: Euwe liebte den Kampf und war früher sogar europäischer Schwergewichtsmeister im Amateurboxen gewesen. Schach- und Boxchampion – was für eine Kombination! Wie sollte ein zappliger Junge, ein Schach-Neuling aus Brooklyn, gegen ihn bestehen? Doch Bobby hatte nach dem Gewinn der Juniorenmeisterschaft und seiner gefeierten Jahrhundertpartie gewaltig an Selbstvertrauen gewonnen. Die Jahrhundertpartie hatte gezeigt, dass man mit diesem jungen Wilden rechnen musste. Und tatsächlich sollte innerhalb des folgenden halben Jahres sein Stern in der internationalen Schachgalaxie aufgehen. Euwe freute sich ebenso auf das Duell mit dem kommenden Star wie Bobby auf das Kräftemessen mit dem alten Fuchs.
Bobby begrüßte Euwe lächelnd und per Handschlag. Das als »Freundschaftsbegegnung« angekündigte Ereignis – es ging um keinen Titel – war ein Schaukampf in zwei Partien, gesponsert vom Schachclub Manhattan. Das Preisgeld war lachhaft niedrig: 65 Dollar für den Sieger, 35 für den Verlierer. Aber hier ging es nicht um Geld, sondern um die Möglichkeit, sich mit einem hochinteressanten Gegner zu messen.
Der Lehrer und der Teenager gaben am Tisch ein lachhaftes Bild ab: Euwes lange Beine passten kaum unter den Tisch, deswegen saß er seitlich verdreht da, was ihn ungezwungen und irgendwie unbeteiligt wirken ließ. Im Kontrast dazu musste der überaus ernsthaft wirkende Bobby kerzengerade dasitzen, um überhaupt die Figuren zu erreichen. Gerade so kam er mit den Ellbogen noch auf den Tisch. Eine kleine Gruppe von Zuschauern stand um das Brett, um die Partie zu verfolgen.
In großmeisterlicher Manier spielte Euwe den Jungen schwindlig. Nach 20 Zügen erkannte Bobby, dass seine Lage hoffnungslos war, und gab auf. Heulend stürmte er aus dem Club und zur U-Bahn. Euwe hingegen empfand keinen Stolz über den schnellen Sieg, schließlich sei Bobby »nur ein Junge«. »Aber ein vielversprechender«, fügte er noch schnell hinzu.
Am nächsten Tag stand Bobby um 14.30 Uhr bereit für die zweite und letzte Partie der Begegnung. Diesmal hatte er Weiß, durfte also den ersten Zug machen. Das erlaubte ihm, seine bevorzugte Eröffnung zu spielen. Nach der Niederlage vom Vortag war er wild zur Revanche entschlossen. Nach einem Abtausch von Figuren ging er mit einem Bauern Vorteil in ein Endspiel, das schwer nach einem Remis roch. Als Bobby beim 41. Zug einen Abtausch von Türmen anbot, schlug Euwe ein Remis vor. Bobby dachte lange nach, sah aber keine Gewinnchance und nahm das Angebot widerstrebend an.
Einem ehemaligen Weltmeister ein Remis abgetrotzt zu haben, das hieß schon etwas. Dennoch ärgerte sich Bobby, weil er die Begegnung verloren hatte, 1½ zu ½. In den folgenden 50 Jahren wurden praktisch alle Partien Bobbys veröffentlicht und
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