Endspiel - Genie und Wahnsinn im Leben der Schachlegende Bobby Fischer
Zivilleben gern den Clown, war aber ein aggressiver und gefährlicher Schachgegner und hatte Bobby beim vorjährigen Rosenwald noch geschlagen. Entsprechend vorsichtig ging Bobby die Partie an. Doch schon nach ein paar Minuten bot Turner ihm beim 18. Zug mit hoher Stimme ein Remis an. Bobby nahm an und schlenderte danach gelassen durch den Saal, in dem die anderen Partien noch liefen. Er hatte 10½ Punkte gesammelt und, wie bei den American Open, keine Partie verloren. Mit geröteten Wangen spielte Lombardy, der nicht mehr um den Titel kämpfte, gegen den verehrten Reshevsky. Der alte Fuchs lag bei 9½ Punkten. Wenn er Lombardy schlug, würde er gemeinsam mit Bobby Champion: Bei diesem Turnier gab es bei Gleichstand einfach mehrere Sieger. Um sich die Zeit zu vertreiben, vielleicht auch, um seine Gleichgültigkeit gegenüber der noch laufenden Partie zu demonstrieren, spielte Bobby mit ein paar seiner Clubkameraden Schnellschach. Gelegentlich wanderte er zur Partie Lombardy-Reshevsky hinüber und musterte die Stellung einige Sekunden lang. Als er nach einem dieser Ausflüge zurückkam, verkündete er nüchtern: »Reshevsky ist im Eimer.« Lombardy spielte die Partie seines Lebens und fuhr wie eine Dampfwalze durch Reshevskys Reihen. In aussichtsloser Lage nahm Reshevsky seine angezündete Zigarette aus dem Mundstück, schürzte die Lippen und gab auf. Bobby kam zum Brett und gratulierte seinem Freund: »Grandios gespielt!« Der 20-jährige Lombardy antwortete lächelnd: »Was blieb mir schon übrig? Du hast mich gezwungen, Sammy zu schlagen!« Der 14-jährige Bobby Fischer war Schachmeister der Vereinigten Staaten.
4. Kapitel Das amerikanische Wunderkind
N ach jedem Schultag, an Samstagen und die ganzen Sommerferien hindurch (ausgenommen die Tage, an denen er Collins besuchte oder auf einem Turnier war) ging Bobby zur U-Bahn-Station Flatbush Avenue und nahm die Subway unter dem East River hindurch nach Manhattan, wo er am Union Square ausstieg. Er wanderte südlich den Broadway hinunter bis zum Greenwich Village. Dort steuerte er die Buchhandlung Four Continents an, ein Warenhaus mit russischen Büchern, Zeitschriften, Tonträgern und handgemachten Geschenken wie Matrjoschka-Puppen. Ein Russen-Nest? Da konnte das FBI nicht weit sein. Und tatsächlich kam später ans Licht, dass das FBI das Four Continents von den 1920ern bis in die 1970er-Jahre überwacht hatte. 15 000 Berichte, Fotos und Dokumente wurden gesammelt auf der unermüdlichen Suche nach Kommunistenfreunden und Sowjetagenten. In den 1950ern, als Bobby dort einkaufte, war das FBI besonders rege und sammelte Material für das Komitee für unamerikanische Umtriebe.
Das Four Continents führte eine kleine, aber gut sortierte Auswahl an Schachbüchern und die jeweils aktuelle Ausgabe des Schachmatnij Bulletin , einer neu gegründeten Schachzeitschrift in russischer Sprache. Fischer erkundigte sich, wann das monatlich erscheinende Magazin im Laden eintreffen würde, und besorgte es sich dann immer so bald wie möglich. Anderen gegenüber verkündete er, das Schachmatnij Bulletin sei »die beste Schachzeitschrift der Welt«.
Beharrlich spielte er die dort abgedruckten Partien nach. Er verfolgte die Heldentaten des 18-jährigen Boris Spasski, der 1955 die Juniorenweltmeisterschaft gewonnen hatte. Außerdem studierte er die Partien Mark Taimanows, der 1956 sowjetischer Meister geworden war. Taimanow, ein Konzertpianist, erfand neue Varianten für Eröffnungen, die Fischer sehr lehrreich fand. Beim Zeitschriftenstudium zählte Bobby mit, mit welchen Eröffnungen mehr Partien gewonnen wurden als mit anderen. Er besah sich Varianten von Eröffnungen, merkte sich die vielversprechenden und verwarf die unsinnigen. Er prägte sich auch Partien ein, die er einer tieferen Erforschung würdig fand. Die im Schachmatnij Bulletin abgedruckten Meisterpartien wurden zu seinen Leitsternen, und einige der Meister, die sie gespielt hatten, sollten später zu seinen Rivalen werden.
Für zwei Dollar kaufte Bobby im Four Continents die Russische Schachschule – auf Russisch. Dieser Klassiker der modernen Schachliteratur war auch auf Englisch herausgegeben worden, als Propagandaschrift, die den »Aufstieg der sowjetischen Schule zum Gipfel des Weltschachs als logische Folge der kulturellen Entwicklung im Sozialismus« darstellte. Obwohl Bobby noch ein Teenager war, konnte er bestimmt zwischen der Holzhammer-Propaganda und den brillanten Schachpartien trennen, von denen er so
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