Endspiel - Genie und Wahnsinn im Leben der Schachlegende Bobby Fischer
viel lernen konnte. Er empfand Ehrfurcht für die Klarsicht und das rasche, intuitive Spielverständnis der sowjetischen Spieler, die damals zweifellos die Weltspitze ausmachten. Einmal gab der 14-jährige Bobby einem durchreisenden Journalisten von Schachmatnij w SSSR (Schach in der Sowjetunion) ein Interview. Darin sagte er, er würde gern gegen die besten russischen Meister spielen, und führte aus: »Ich beobachte, was eure Großmeister tun. Ich kenne ihre Partien. Sie sind klug, angriffsfreudig, kampflustig.«
Jahrelang stöberte Bobby im Angebot des Four Continents, und immer hoffte er, ein Buch zu finden, über das man in fast schon ehrfürchtigen Tönen flüsterte: Isaak Lipnitzkys Fragen der modernen Schachtheorie . Obwohl es zunächst nur auf Russisch vorlag, wurde das Buch unter Schachfreunden sofort nach seinem Erscheinen 1956 zum Klassiker, und Exemplare waren rar. Ein Schachfreund, der zehn Jahre ältere Karl Burger (er wurde später Arzt und Internationaler Meister), schwärmte Bobby von dem Buch vor. Bobby brannte darauf, es zu lesen, musste es aber über Four Continents bestellen. Es kam erst Monate später an, schlecht gedruckt auf miesem Papier und voller Schreibfehler.
Doch diese Makel störten Bobby nicht. Er grübelte über den Seiten, als sei er ein Philosophiestudent und versuche, Immanuel Kants Kritik der reinen Vernunft zu verstehen. Er mühte sich am Russischen ab und bat seine Mutter ständig, ihm Textpassagen zu übersetzen, in denen die notierten Züge kommentiert wurden. Regina fühlte sich nicht belästigt, ganz im Gegenteil freute sie sich, dass Bobby Russisch lernte. Bobby seinerseits staunte, wie viel er aus dem Buch lernen konnte.
Lipnitzky betonte den Zusammenhang zwischen der Kontrolle über die zentralen Felder des Bretts und der Fähigkeit, seinen Figuren Freiräume zu verschaffen und die Initiative zu ergreifen. Die Idee ist simpel, fast schon elementar, doch es kann recht schwierig sein, sie in einer Partie auch tatsächlich umzusetzen. Lipnitzky warf dem Leser nicht einfach Ideen an den Kopf, sondern führte einleuchtende Beispiele dafür an, wie man seine Empfehlungen umsetzte. Bobby übernahm einige von Lipnitzkys Ideen in sein Spiel und entwickelte eine Lipnitzky-Angriff genannte Antwort auf die sizilianische Verteidigung. Jahre später zitierte er in seinen eigenen Schriften Lipnitzkys Prinzipien.
Nachdem er etwa eine Stunde im Four Continents nach Perlen der aktuellen Schachliteratur gefahndet hatte, überquerte Bobby die Straße und betrat das Reich des phlegmatischen Dr. Albrecht Buschke. Dieser Laden wie aus einem Dickens-Roman lag tief in den Innereien eines alten, höchst geschichtsträchtigen Gebäudes, das ein Jahrhundert zuvor das Hotel St. Denis gewesen war. Hier hatte Amerikas inoffizieller Weltmeister Paul Morphy geschlafen, während er auf dem ersten amerikanischen Schachkongress spielte. Für Bobby war das Gebäude aber noch aus einem zweiten Grund eine Pilgerstätte: In der ehemaligen Hochzeitssuite des St. Denis residierte nun der amerikanische Schachbund.
Buschkes Höhle bestand aus einem einzigen kleinen Raum und roch nach Schimmel, uraltem Papier, antiken Einbänden und den grauen Schwaden aus Buschkes Zigarre. Überall waren gebrauchte Schachbücher: Sie stapelten sich bis an die Decke, versteckten sich in Nischen und reihten sich auf bedenklich durchgebogenen Regalbrettern. Manche lagen auch wild über den Boden verteilt; nichts schien einer Ordnung zu gehorchen. Wenn ein Kunde sich über den Preis eines Buches beschwerte, entschuldigte sich der Inhaber, radierte den alten Preis aus dem Buch – und schrieb einen höheren hinein!
Stundenlang stöberte Bobby durch Buschkes Besitztümer, immer auf der Suche nach dem einen Buch, der einen Zeitschrift oder Seite, die ihm Erleuchtung bringen würde. Er kaufte einige Bücher, die schon etliche Jahrzehnte auf dem Buckel hatten, etwa Rudolf von Bilguers Handbuch des Schachspiels oder Wilhelm Steinitz’ Modern Chess Instructor . Bobby genoss die Glücksfälle, wenn er Bücher fand, von denen er überhaupt nicht gewusst hatte, oder welche, die er schon lange suchte, weil er sie sich nur antiquarisch leisten konnte.
Bobbys Mittel waren begrenzt, aber der brave Doktor gab ihm oft Rabatt, ein Privileg, das sonst absolut niemandem zuteil wurde. Als Bobby die amerikanische Meisterschaft gewann, schenkte Buschke ihm einen 100-Dollar-Büchergutschein. Bobby brauchte Monate, bis er ihn aufgebraucht hatte,
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