Endspiel - Genie und Wahnsinn im Leben der Schachlegende Bobby Fischer
fordernd. »Und gegen Smyslow [den letzten Herausforderer Botwinniks]?« Man beschied ihm, beide Männer verbrächten den Sommer in ihren Datschen, fern von Moskau, und ständen nicht zur Verfügung. Vielleicht entsprach das sogar der Wahrheit.
»Na gut, wie steht’s mit Keres?«
»Keres ist nicht im Land.«
Abramow behauptete später, er habe mehrere Großmeister angesprochen, aber keinen Gegner des von Bobby gewünschten Kalibers gefunden. Bobby wurde immer fordernder und übellauniger, was Abramow gewaltig auf die Nerven ging. Missmutig begrüßte Bobby die Gewichtheber und Olympioniken, denen er vorgestellt wurde, doch das gesamte Besuchsprogramm schien ihn zu langweilen. Die Russen begannen, ihn maltschik zu nennen, »kleiner Junge«. Bobby fühlte sich durch den Kosenamen beleidigt; schließlich war er bereits ein Teenager.
Schließlich zitierte man den Internationalen Großmeister Tigran Petrosjan in den Club. Sein Spiel galt als farblos, aber fast schon wissenschaftlich präzise. Petrosjan war einer der größten Defensivspieler aller Zeiten, außerdem grandios im Blitzschach. Bobby wusste natürlich von ihm; er hatte Petrosjans Partien des Amsterdamer Turniers 1956 studiert und ihn bei der Begegnung USA–UdSSR vier Jahre zuvor in New York aus der Ferne gesehen. Bevor der Großmeister eintraf, wollte Bobby wissen, wie viel man ihm, Bobby, für eine Partie gegen Petrosjan bezahlen würde. »Nichts«, kam die frostige Antwort Abramows. »Du bist unser Gast, und Gästen bezahlen wir keine Prämien.«
Die Partien wurden in einem kleinen, hohen Raum am Ende des Flurs gespielt, vielleicht, um die Zahl der Zuschauer klein zu halten. (Während der Partien gegen die zwei jüngeren Männer war die Zahl auf ein paar Dutzend angewachsen.) Petrosjan und Bobby spielten Schnellschach gegeneinander; die meisten Partien gewann Petrosjan. Viele Jahre später ließ Bobby durchblicken, dass Petrosjans Stil ihn damals »zu Tode gelangweilt« habe, weshalb er durch Flüchtigkeitsfehler unnötig viele Partien verloren habe.
Nach 20 Tagen lief Bobbys Visum aus. Und obwohl Bobby an allem herummäkelte, wäre er doch gerne – gratis versorgt vom Sowjetstaat – noch bis zum Beginn des Interzonenturniers in Moskau geblieben. Regina bemühte sich, Bobbys Visum verlängern zu lassen. Sie wünschte sich, dass er Europa kennenlernte und Fremdsprachen übte, deren Bedeutung für die Bildung sie immer wieder betonte. Außerdem wusste sie, dass er zur Vorbereitung auf das Interzonenturnier noch gegen die stärkeren Sowjetspieler antreten wollte. Doch dazu kam es nicht.
Als Bobby merkte, dass er keine Gegner für ernsthafte Wettkämpfe oder Trainingsspiele fand, bekam er einen Wutanfall. Er fühlte sich nicht angemessen respektiert. War er nicht der aktuelle amerikanische Schach-Champion? Hatte er nicht die »Partie des Jahrhunderts« gespielt, eine der brillantesten Schachpartien aller Zeiten? War er nicht ein Jahr zuvor schon gegen Max Euwe, einen ehemaligen Weltmeister, angetreten? Hatte man nicht vorausgesagt, dass er in zwei Jahren Weltmeister würde?
Er schmollte wie ein beleidigter König. Wie konnten sie ihm , dem Prinzen des Schach, nur etwas ausschlagen? In Bobbys Augen war die Weigerung der großen Meister, gegen ihn zu spielen, viel mehr als nur ein ärgerlicher Rückschlag oder eine Brüskierung, es war ein unerträglicher Affront. Auf den er, seiner Meinung nach, nur angemessen reagierte. Ihm schien es offensichtlich, dass die Spitzenspieler ihm auswichen, weil sie sich vor ihm fürchteten. Bobby sah sich in derselben Lage wie sein Held Paul Morphy genau 100 Jahre zuvor: Während dessen erster Reise nach Europa 1858 weigerte sich der Engländer Paul Staunton, der damals als weltbester Spieler galt, Morphy zu empfangen. Schachhistoriker und -kommentatoren stimmen darin überein, dass der 21-jährige Morphy Staunton locker geschlagen hätte. Und der 15-jährige Fischer glaubte fest, dass er Michail Botwinnik, den Weltmeister, besiegen würde, wenn er nur die Chance dazu bekäme.
Als Bobby dämmerte, dass er die Giganten des russischen Schachs nicht sofort – zumindest nicht innerhalb der nächsten Tage – treffen würde und außerdem keine Prämien zu erwarten hatte, schlug seine Liebe in Hass um: Die Sowjetunion war ihm kein Schachparadies mehr, sondern ein Nest von Verrätern. Er grantelte auf Englisch, etwas in der Art, nun reiche es ihm aber mit den »russischen Schweinen«. Dass die anwesende Dolmetscherin
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