Endspiel - Genie und Wahnsinn im Leben der Schachlegende Bobby Fischer
Intourist auf Joan und Bobby. Man brachte sie ins National, das beste Hotel der Stadt. Eine sehr passende Wahl: Nach der Revolution von 1917 hatte Lenin, der Anführer der Bolschewiken, in diesem Hotel residiert. Lenin war aktiver Schachspieler gewesen, was die Popularität des Spiels im Land noch weiter gefördert hatte.
Die Geschwister Fischer genossen den Luxus einer prächtigen Suite mit zwei Schlafzimmern und freiem Blick auf Kreml, Roten Platz und die prächtigen Türme der Basilius-Kathedrale. Bobby wurde wie ein Star empfangen und bekam eine Dolmetscherin sowie ein Auto mit Chauffeur zur Verfügung gestellt. Drei Monate zuvor hatte Moskau einen weiteren jungen Amerikaner gefeiert: den 23-jährigen Van Cliburn, der hier den ersten Internationalen Tschaikowski-Wettbewerb im Klavierspiel gewonnen hatte und so den Kalten Krieg zwischen Amerika und der UdSSR für einen Moment vergessen ließ. Bobby erwartete nicht, ebenso bejubelt zu werden oder gar zur diplomatischen Entspannung beitragen zu können. Trotzdem, fand Regina, verdiene er den gleichen Respekt, die gleiche Aufmerksamkeit. Sie forderte das nicht ohne Hintergedanken: Sie hatte gelesen, dass Van Cliburn von Moskau aus jeden Tag seine Mutter in Texas angerufen habe – und ihm die Kosten dafür erlassen worden seien. »Ruf mich an«, schrieb sie Bobby. »Es geht aufs Haus.« Er tat es nicht.
Bobbys Respekt vor den russischen Topspielern, die er nur von ihren Partien her kannte, war immens. Deshalb glaubte Bobby sich anfangs im Schachhimmel. Er wollte sehen, wie das Spiel in den staatlich geförderten Pionierpalästen gelehrt und geübt wurde. Er wollte russische Schachliteratur kaufen und lesen sowie Clubs und Parks besuchen, in denen Schach gespielt wurde. Vor allem aber freute er sich darauf, gegen die besten Spieler der Welt anzutreten. Er hoffte, gegen möglichst viele Meister zu spielen und von den Sowjets zu lernen, wie man sich auf ein Interzonenturnier vorbereitete.
Doch er hatte sich verkalkuliert: Die Russen hatten nicht die geringste Absicht, einen Amerikaner in ihre Trainingsmethoden oder Schachgeheimnisse einzuweihen – erst recht nicht, weil Bobby ja in wenigen Wochen gegen eben jene Leute antreten würde, mit denen er jetzt zu trainieren hoffte. Die Leiter des Sowjetschachs hielten Bobby durchaus für eine Bedrohung. Ganz bestimmt würde man ihm nicht dabei helfen, die Sowjets in ihrem Nationalsport zu besiegen.
Man erstellte ein dichtes Besichtigungsprogramm für die Geschwister Fischer: Stadtrundfahrt, Führung durch den Kreml, Besuch des Bolschoi-Theaters (mit Ballettaufführung), des Moskauer Zirkus’ und verschiedener Museen. Was für eine Gelegenheit, russische Geschichte und Kultur zu erfahren! Doch Iwan der Schreckliche, Peter der Große, Josef Stalin, Leo Tolstoi oder Alexander Puschkin ließen Bobby völlig kalt. Er war nach Moskau gekommen, um ernsthaftes Schach zu betreiben und sich mit russischen Turnierspielern zu messen. Jede freie Minute wollte er Schach spielen, idealerweise gegen die stärksten Meister des Landes. Moskau war der Austragungsort des großartigen Turniers von 1925 gewesen, bei dem Aljechin zum Großmeister aufstieg. Hier spielten, trainierten und lebten die meisten Topspieler der Welt, hier war nur wenige Monate zuvor die Weltmeisterschaft ausgetragen worden. Für Bobby war Moskau ein Schachparadies, und die Möglichkeiten in dieser Stadt machten ihn ganz schwindelig.
Lew Abramow bot Bobby an, ihm die Stadt zu zeigen, doch Bobby schlug das Angebot aus und bat, direkt zum Zentralnij Schachmatnij Club gebracht zu werden. Der Zentrale Schachclub Moskaus gilt als einer der besten der Welt. Fast die gesamte Elite der Moskauer Schachspieler gehörte dem 1956 gegründeten Club an. Seine Bibliothek umfasste angeblich 10 000 Schachbücher und 100 000 Karteikarten mit Eröffnungsvarianten. Bobby konnte kaum erwarten, all das zu sehen.
Als Bobby im Hauptquartier des Clubs am Gogolewskij Boulevard ankam, wurde er gleich zwei jungen Meisterspielern vorgestellt, Ewgenij Wasukow und Alexander Nikitin. Sofort begann er, gegen beide abwechselnd Schnellschach zu spielen. Er gewann jede Partie. Der spätere Meister Lew Khariton, damals noch Teenager, erinnerte sich, wie sich allmählich eine Traube um das Brett bildete. Alle wollten das amerikanische Wunderkind sehen. »So über das Brett gebeugt, wirkte er irgendwie einsam«, sagte Khariton.
»Und wann spiele ich gegen [den Weltmeister] Botwinnik?«, fragte Bobby
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