Endspiel - Genie und Wahnsinn im Leben der Schachlegende Bobby Fischer
Eingriff handelte. Dennoch bettelte Bobby die Ärzte an, nicht zu operieren. Sie entgegneten ihm, er werde nach dem Eingriff in ein paar Tagen wieder auf den Beinen sein. Aber er sträubte sich weiter. Sich operieren zu lassen, widersprach seiner Lebensphilosophie, außerdem fürchtete er sich vor der Narkose. Er wollte nicht einmal Schmerzmittel nehmen. Am Ende konnten ihn die Ärzte wenigstens dazu überreden, dass er Antibiotika nahm. Die Schmerzen ließen daraufhin allmählich nach, und nach zwei, drei Tagen war er wieder ganz der alte. Er dankte den Ärzten überschwänglich, dass sie nicht darauf bestanden hätten, ihn zu operieren.
Nach dem Blinddarm-Vorfall lud die BBC Bobby nach London ein, zu einem Auftritt der Sendung Chess Treasury of the Air (Schach-Schatzkästlein des Äthers). Bobby blieb etwa zehn Tage in England, ganz verzaubert vom weihnachtlichen London. So hatte er sich das New York der letzten Jahrhundertwende immer vorgestellt. Er bewunderte die Sauberkeit der Stadt und die Höflichkeit der Leute. Pal Benko, der gleichzeitig in der Stadt war, bemerkte, dass die Londoner ihn trotz seines starken ungarischen Akzents besser verstanden als Bobby mit seinem ausgeprägten Brooklyn-Akzent. Bobby feierte britische Weihnachten bei seiner Mutter und ihrem neuen Mann, Cyril Pustan, der Bobby im Radio gehört hatte.
Ganz allmählich nahm die Beschäftigung mit den Lehren der Weltweiten Kirche Gottes einen immer größeren Raum in Bobbys Leben ein. Bald kamen sich seine zwei großen Leidenschaften, Schach und Religion, zeitlich ins Gehege. »Ich teilte mein Leben in zwei Bereiche«, erzählte er später einem Interviewer. »Auf der einen Seite war Schach, für den Verstand. Und auf der anderen die Religion. Ich habe auch versucht, die Lehren meiner Kirche im Schach umzusetzen. Aber natürlich analysierte ich trotzdem noch. Ich vertraute nicht einfach darauf, dass Gott mir die richtigen Züge eingebe.« Bobbys pragmatische Philosophie entsprach der des arabischen Sprichworts: »Vertrau auf Allah, aber binde dein Kamel fest.«
Bobby belegte weiter den Fernlehrgang in Bibelkunde, hörte sich Pastor Armstrongs Predigten an, beschäftigte sich ernsthaft mit Altem und Neuem Testament und las Plain Truth (Einfache Wahrheit), die zweimonatlich erscheinende Zeitschrift seiner Kirche. Die Artikel der Zeitschrift, die angeblich 2,5 Millionen Abonnenten hatte, waren ganz einfach geschrieben (wie ihr Name ja schon versprach) und handelten nicht nur von Religion, sondern auch von Politik. Bobby arbeitete jede Ausgabe von vorn bis hinten durch. Viel von dem, was er da las, schien ihm sinnvoll. Noch 40 Jahre später vertrat er Ideen, die er von Armstrong und aus Plain Truth übernommen hatte.
In einer Ausgabe malte Armstrong ein schreckliches Bild vom kommenden Dritten Weltkrieg. Die USA und Großbritannien würden von den Vereinigten Staaten von Europa vernichtet. Armstrong versprach, seine Kirchenmitglieder nach Jordanien zu führen, wo sie gerettet würden, weil sie »das Volk Gottes« seien.
Bobby schrieb seiner Mutter einmal einen moralisierenden Brief, in dem er begeistert von Armstrongs Lehren und seinen intensiven Bibelstudien berichtete, die »meine Ansichten über das Leben total verändert haben«. Er glaubte fest, Gesundheit und Glück, Erfolg und ewiges Leben nur erlangen zu können, wenn er nach Armstrongs Bibelauslegung lebte. Er beschwor seine Mutter, die Bibel und Armstrongs Schriften ebenfalls zu lesen. Regina indes zeigte sich unbeeindruckt: Sie antwortete Bobby, Armstrong und seine Kirche versuchten, Bobby mit ihrem Hokuspokus und ihrer Panikmache für dumm zu verkaufen. Sie mahnte, die beste Art zu leben, bestehe darin, ein guter und toleranter Mensch zu sein; das könne man Religion nennen, wenn man wolle. Danach kamen die beiden überein, nicht mehr über dieses Thema zu diskutieren.
Bobby versuchte, seinen Glauben zu praktizieren und zu leben. Er fühlte sich wahrhaft wiedergeboren, und er ging das Bibelstudium mit der gleichen Disziplin und Ehrerbietung an, mit der er auch Schach betrieb. Er begann, für wohltätige Zwecke zu stiften, verzichtete auf Sex vor der Ehe, verdammte Gotteslästerung und Pornografie und versuchte, die zehn Gebote peinlich genau zu beachten. »Wenn je jemand versucht hat, nach dem Buchstaben des Gesetzes zu leben, dann war ich das«, sagte er später, in einem Interview für den Ambassador Report .
Doch irgendwann wurde ihm alles zu viel. Er konnte nicht zehn,
Weitere Kostenlose Bücher