Endspiel - Genie und Wahnsinn im Leben der Schachlegende Bobby Fischer
erzielen. Darin zitiert er den Neurologen Daniel Levithin: Ein wahrer Experte werde man erst nach 10 000 Stunden Übung. »Egal ob es sich um Komponisten, Basketballspieler, Romanautoren, Schlittschuhläufer, Konzertpianisten, Schachspieler oder Verbrechergenies handelt, sämtliche Untersuchungen kommen immer wieder auf diese Zahl.« Dann geht Gladwell direkt auf Bobby ein: »Auch ein Schachgroßmeister benötigt offenbar etwa zehn Jahre Spielpraxis. (Nur der legendäre Bobby Fischer scheint weniger Zeit gebraucht zu haben, um in die Weltelite vorzustoßen, nämlich neun Jahre.) … Man übt nicht erst dann, wenn man schon gut ist. Man übt, um gut zu werden.« Wir können getrost annehmen, dass Bobby im Alter zwischen neun und elf etwa 1000 Partien im Jahr spielte und von elf bis 13 etwa 12 000 Partien im Jahr, die meisten davon Blitzschach. Obwohl man all diese Partien als »Übung« bezeichnen könnte, waren nicht alle besonders lehrreich. Bestimmte Züge oder Stellungen hingegen konnten außerordentlich aufschlussreich sein; das Wissen darüber setzte sich im Unterbewussten fest. Bobbys Analyse der Nuancen im Spiel anderer hatte den gleichen Effekt: Mit der Zeit sammelte er eine gewaltige Bibliothek kleinster Details an.
Bobby liebte Jugoslawien, weil die dortigen Schachfans ihm als Superstar huldigten. An einem prächtigen Herbsttag betrat er den Austragungssaal des Turniers am See von Bled. Der inzwischen 18-Jährige trug einen makellos sitzenden Anzug, aus dessen Brusttasche ein Tüchlein ragte. Sein Auftreten war athletisch-dynamisch, er wirkte älter, fast ein bisschen wie ein kommender Kinostar. Viele jugoslawische Fans erkannten ihn anfangs gar nicht.
Auf der Straße wurde er von Autogrammjägern belagert. Während des Interzonen- und des Kandidatenturniers, die beide in Jugoslawien ausgetragen worden waren, hatte Bobby genug Serbokroatisch aufgeschnappt, um Widmungen schreiben zu können. Fans waren entzückt, wenn er ihre Autogrammkarten mit einem persönlichen Gruß auf Serbokroatisch schmückte. Als ein Zuschauer aus Moskau ihn um ein Autogramm bat, unterschrieb Bobby in kyrillischen Lettern.
Schon in der zweiten Runde kam es, in Bobbys Augen, zum Höhepunkt des ganzen Turniers: dem Duell mit Michail Tal. Tal benahm sich diesmal normaler als beim letzten Aufeinandertreffen, er starrte und kicherte weniger. Schon beim sechsten Zug schien Tal von allen guten Geistern verlassen, und beim neunten Zug machte er einen weiteren Patzer. Er hatte sich in der Eröffnung verheddert, die Bobby für ihn vorbereitet hatte. Tals Ausrede für sein schwaches Spiel: Er sei krank gewesen. Bobby spielte zwar auch nicht in Spitzenform, doch er nutzte die schlechten Züge seines Gegners aus und bewahrte den Vorteil, bis Tals Lage unhaltbar wurde und er aufgab. Stürmischer Applaus. »Eine bezaubernde Partie«, schwärmte Chess Review . Bobby freute sich unbändig über diesen ersten Sieg gegen einen der stärksten Spieler der Welt, den Exweltmeister und den Mann, den er während des Kandidatenturniers 1959 am liebsten ermordet hätte.
Als Fischer und Tal von der Bühne traten, bestürmten Journalisten sie um Kommentare. Die zwei Kontrahenten boten ihrem Publikum eine kleine Show:
Tal [seufzend]: »Es ist schwierig, gegen den Einstein des Schachs zu spielen.«
Fischer [jubelnd]: »Endlich ist er mir nicht entkommen!«
Zu seinem Ärger belegte Bobby am Ende nur Rang zwei. Für seine bloß mittelprächtigen Partien fand er (wie zuvor Tal) eine Erklärung: Er habe sich nicht wohlgefühlt. Gegen Ende des Turniers spürte er einen milden Schmerz im rechten Unterbauch und hatte Schwierigkeiten, Essen bei sich zu behalten. Als der Schmerz schlimmer wurde, schickten ihn seine Kollegen sofort zum Arzt.
Bobby, der Ärzten ohnehin misstraute, machte sich allerdings Sorgen wegen der Sprachbarriere. Ein Arzt wurde ins Hotel Toplice gerufen, und einer der jugoslawischen Spieler übersetzte. Kaum berührte der Doktor Bobbys Bauch, als der schon vor Schmerz zusammenzuckte. »Sieht nach Blinddarmentzündung aus«, meinte der Arzt. »Sie müssen ins Krankenhaus. Wenn der Blinddarm durchbricht, kann sich das ganze Bauchfell entzünden. Üble Sache!« Bobby fragte, ob man irgendetwas anderes unternehmen könne. »Nein!«, antwortete der Arzt entschieden. Widerstrebend ließ Bobby sich ins Universitätskrankenhaus von Banja Luka (Bosnien) bringen. Dort wurde ihm erklärt, dass es sich um einen relativ einfachen, aber unvermeidlichen
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