Endspiel - Genie und Wahnsinn im Leben der Schachlegende Bobby Fischer
Zwar mit unfairen Mitteln, wie Bobby fand, aber dennoch. Diese Erkenntnis machte ihn wütend und traurig.
Jetzt wurde Bobby klar, dass sein Aufstieg zum Schachweltmeister nicht schon vom Schicksal vorbestimmt war. Aber er würde sich durchbeißen! Er verachtete die Sowjets für ihre Mauscheleien. Er fand, sie hätten ihm den Turniersieg gestohlen, und dieses Unrecht wollte er in die Welt posaunen.
In ihrer Ausgabe vom 20. August 1962 druckte Sports Illustrated Bobby’s jJaccuse ab: »Die Russen manipulieren die Weltmeisterschaft«. Der Artikel erschien übersetzt auch auf Deutsch, Niederländisch, Spanisch, Schwedisch und Isländisch, selbst die Sowjetpresse ging auf ihn ein. Bobby kündigte an, nie wieder an einem Kandidatenturnier teilzunehmen, weil der Austragungsmodus es Nicht-Sowjets unmöglich machte zu gewinnen. Bobby schrieb:
Das von der FIDE geschaffene System … stellt sicher, dass immer ein Russe Weltmeister wird … Die Russen haben es so gedeichselt.«
In Portorož hatte er bewiesen, dass er inzwischen stark genug war, jeden sowjetischen Großmeister zu besiegen, der mit ihm um den Titel konkurrierte. Und er glaubte, die Russen schwindelten auf Turnieren jetzt offenkundiger, weil sie ihn als Bedrohung ernst nahmen.
Schachbeobachter sind sich einig, dass sich die Sowjets in Curaçao wohl abgesprochen haben. Was Bobby aber zu erwähnen vergaß: Im ganzen Turnier waren die drei Erstplatzierten nie ernsthaft gefährdet; weder Bobby noch sonst irgendjemand kam ihnen nahe. Warum hätten sie dann so offenkundig schummeln sollen? Die Volkswirtschaftsprofessoren Charles C. Moul und John V.C. Nye gingen dieser Frage nach. Für den wissenschaftlichen Artikel »Haben die Sowjets sich abgesprochen? Eine statistische Analyse der Schachweltmeisterschaften 1940–64« werteten sie Hunderte Turnierergebnisse mit sowjetischen und nicht-sowjetischen Spielern aus. Ihr Ergebnis: Mit einer Wahrscheinlichkeit von 75 Prozent gab es Absprachen zwischen Sowjets. Allerdings betonten die Autoren auch, dass »Fischer 1962 in Curaçao nicht stark genug war, um durch die reklamierte Remis-Absprache ernsthaft benachteiligt worden zu sein.«
Mauschelei hin oder her, die wahren Gründe für die Dominanz der Sowjets waren doch andere: Schach war in der UdSSR enorm populär, und die Regierung förderte Topspieler. Die Sowjetunion hatte mehr Spitzenspieler als die drei nächstbesten Nationen zusammen. Solange dieses Ungleichgewicht weiterbestand – wofür das grandiose sowjetische System der Nachwuchsförderung schon sorgen würde –, kamen zwangsläufig immer zwei, drei Russen ins Kandidatenturnier, wo bereits ein, zwei gesetzte Sowjetspieler warteten. Daraus ergab sich die Möglichkeit für die Sowjets, sich gegebenenfalls »zusammenzutun«. Klagen wie die von Bobby waren also durchaus berechtigt.
Und tatsächlich beschloss der Weltschachbund FIDE wenig später, die Regeln für das Kandidatenturnier radikal zu ändern. Die Sowjets und der Rest der Schachwelt waren – vielleicht auch von Bobbys Brandrede in Sports Illustrated – derart geschockt, dass sich kein Protest regte. Ab sofort würden die acht Teilnehmer am Turnier im k.-o.-System gegeneinander antreten: Die jeweiligen Duelle würden über zehn bis zwölf Runden gehen, nur der Sieger käme weiter.
Offen blieb aber die Frage, ob Bobby sich tatsächlich nie wieder am Kampf um die Weltmeisterschaft beteiligen und seinen Traum somit begraben würde. Manche fragten sich, ob er vielleicht ganz mit dem Schach aufhören würde.
Die Antwort kam schnell.
8. Kapitel Kampf der Legenden
S eptember 1962. An Bord des Ozeandampfers New Amsterdam trug der 19-jährige Bobby zwar keinen Frack zum Dinner in der Lounge der ersten Klasse, aber er hatte sich so gediegen angezogen, wie er nur konnte: blauer Serge-Anzug, weißes Hemd, dunkle Krawatte. Über Passagiere, die in Freizeithosen und Turnschuhen zum Abendessen erschienen, echauffierte er sich auf die überhebliche Art des Neureichen. Dass er selbst einmal in Sachen Mode nicht ganz zur Weltspitze gehört hatte, war ihm entfallen.
Auf der neuntägigen Reise von New York nach Rotterdam schlief Bobby so viel wie möglich, analysierte einige Partien und genoss die Seeluft auf dem Promenadedeck. Er bezahlte die Reise von den 5000 Dollar Antrittsprämie, die er für die Teilnahme an der Schacholympiade in Warna, Bulgarien, bekam. Drei Gründe hatten ihn bewogen, über den Atlantik zu fahren statt zu fliegen: Er wollte sehen und
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