Endspiel - Genie und Wahnsinn im Leben der Schachlegende Bobby Fischer
zwölf Stunden täglich Schach üben und dann noch sechs, acht Stunden Bibelstudien betreiben. Außerdem plagten ihn immer wieder unreine Gedanken, und er beging kleinere Sünden. »Je mehr ich versuchte [gehorsam zu sein], desto verrückter wurde ich«, berichtete er. »Ich war nicht mehr ganz bei Sinnen, wie bekifft.« Schließlich erkannte er, dass Caissa, die Schutzgöttin des Schachs, ihm mehr zu sagen hatte als die Weltweite Kirche Gottes. Er gab daraufhin die Religion zwar nicht ganz auf, konzentrierte sich aber völlig aufs Schach. Fokus! Fokus! Fokus! Schach musste wieder oberste Priorität haben, sonst würde sein Traum von der Weltmeisterschaft genau das bleiben: ein Traum.
Januar 1962
Zwei Monate Schweden, mitten im Winter. Doch es war deutlich wärmer, als Bobby erwartet hatte, die Temperaturen lagen meist um zehn Grad plus. Er war nicht nach Stockholm gereist, um über das Kopfsteinpflaster der Altstadt zu schlendern, durch die Fußgängertunnels zu gehen oder sich für eine Ostseekreuzfahrt einzuschiffen. Nein, er war, wieder einmal, gekommen, um der Spieler zu werden, dem die gesamte Schachwelt huldigte. Im Stockholmer Turnier ging es zwar auch um Ruhm und Ehre, vor allem aber um die Qualifikation für das nächste Kandidatenturnier.
Chess Life fasste die Ergebnisse von Stockholm auf der Titelseite so zusammen:
Stockholm 1962 wird man später möglicherweise als den Beginn einer massiven Machtverschiebung im Weltschach in Erinnerung behalten. Das aktuelle System zur Ermittlung des Herausforderers über Interzonen- und Kandidatenturniere besteht seit 1948, doch erst jetzt gelang es einem Nicht-Sowjet, den ersten Platz zu erreichen. Bobby Fischers Vorsprung von 2½ Punkten spiegelt wider, wie total er die Veranstaltung beherrschte. Dabei war nichts dem Glück geschuldet: Nie hatte er eine Stellung, mit der er hätte verlieren müssen.
Bobby hatte sowohl in Bled als auch in Stockholm keine einzige Partie verloren, eine schier unfassbare Leistung. Das Äquivalent im Fußball wäre vielleicht, ohne ein Gegentor das WM-Finale zu erreichen: theoretisch möglich, praktisch aber fast nicht zu schaffen. Wenige Tage vor seinem 19. Geburtstag hatte Bobby Fischer sich als einer der herausragenden Schachspieler dieser Welt etabliert.
Wenn es irgendetwas bedurfte, um Bobby wieder von Wolke sieben zu holen, erledigte das die Siegprämie. Vor seiner Abreise aus Schweden überreichte man ihm einen weißen Umschlag mit dem Lohn für seine brillante Leistung über zwei Monate hinweg: 750 Dollar in Schwedischen Kronen. Bobby konnte nur traurig den Kopf schütteln.
Nach dem Turnier blieb Bobby keine Zeit, sich mit seiner Leistung zu brüsten, sich im Ruhm zu sonnen oder gar auszuruhen. Sein Ziel war der Weltmeistertitel, und das Kandidatenturnier, für das er sich soeben qualifiziert hatte, würde schon in sechs Wochen stattfinden. Auf Curaçao, einer Karibikinsel 60 Kilometer vor der Küste Venezuelas, würde ermittelt, wer den Titelverteidiger Michail Botwinnik herausfordern durfte.
Bobby kehrte also nach Brooklyn zurück und stürzte sich auf bereits gewohnte Art in die Vorbereitung: Er schottete sich von allem ab und verbrachte endlose Stunden mit Studien, Analysen von Partien und dem Austüfteln neuer Eröffnungen. Er ordnete analysierte Zugfolgen nach ihrer Wichtigkeit ein, verwarf jede nicht ganz perfekte Fortführung und suchte nach dem »goldenen Zug«, wie er ihn nannte: dem Zug, gegen den es kein Mittel gab. Immer wieder ging er die gleichen Fragen durch: Wie ungewöhnlich war die resultierende Stellung, wenn er eine bestimmte Zugfolge machte? Würde sein Kontrahent den Überblick verlieren? Würde er, Bobby, sich mit dieser Stellung wohlfühlen? Wie würde er von ihr aus ins Endspiel übergehen?
Der Großmeister Pal Benko hatte in Ungarn im Widerstand gegen die Nazis gekämpft, war später in die USA ausgewandert, amerikanischer Staatsbürger und, wie viele Schachspieler, Investmentbanker geworden. Jetzt platzte er in Bobbys Zimmer im Hotel Intercontinental auf Curaçao. Kurz zuvor war Arthur Bisguier, Bobbys Sekundant, eingetroffen.
»Wir fangen gleich zu arbeiten an«, versuchte Bobby ihn abzuwimmeln. Der Roomservice hatte ein großes Mitternachtsdinner gebracht, über das sich Bobby gerade hermachte. Er und Bisguier planten, ein paar Partien zu analysieren. »Sie können jetzt nicht rein.«
»Kann ich doch. Bisguier ist auch mein Sekundant«, entgegnete Benko.
»Bisguier ist auch mein
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