Endspiel - Genie und Wahnsinn im Leben der Schachlegende Bobby Fischer
erfahren, wie die »Aristokratie« reiste, er brauchte Ruhe und Zeit für sich, und er fürchtete, dass die Sowjets sein Flugzeug sabotieren könnten, um ihre nationale Schachehre zu retten und ihn als Bedrohung ihrer Vormachtstellung auszuschalten. Berechtigte Angst oder krankhafter Verfolgungswahn?
Bobbys Tiraden gegen die angeblichen Mauscheleien der Sowjets hatten die Schachwelt erschüttert. Die Schachoberen in Russland schäumten vor Wut. So sehr, dass Bobby ihnen durchaus zutraute, ihn zu ermorden, indem sie »das Triebwerk meines Flugzeugs manipulierten«.
Bobby freute sich darauf, zum ersten Mal gegen den amtierenden Schachweltmeister Michail Botwinnik anzutreten, und sei es nur an einem, Gerüchten zufolge, zweitklassigen Austragungsort für ein Turnier: dem Golden-Sands-Resort am Schwarzen Meer.
Michail Moisejewitsch Botwinnik aus Sankt Petersburg (damals Leningrad) war zu jenem Zeitpunkt 51 Jahre alt und gehörte zu den besten Schachspielern aller Zeiten. Der dreimalige Weltmeister hatte Alexander Aljechin, José Capablanca, Dr. Max Euwe, Emanuel Lasker und weitere renommierte Spieler besiegt. In Schachkreisen war er eine lebende Legende – trotzdem sah er seinem ersten Aufeinandertreffen mit Bobby Fischer mit Nervosität entgegen. Natürlich kannte er Bobbys »Partie des Jahrhunderts«, wusste von seinem nahezu perfekten Auftritt in Bled und seinem bemerkenswerten Sieg in Stockholm. Ebenso kannte er aber Bobbys Anschuldigungen nach Curaçao, weshalb er ihn als Feind des Sowjetstaates betrachtete.
In Warna drohte eine Miniausgabe des Kalten Krieges, ausgetragen auf 64 Feldern.
Fischer und Botwinnik waren sich bereits einmal begegnet, 1960 bei der Olympiade in Leipzig, hatten aber nicht gegeneinander gespielt. Bobby hatte Botwinnik die Hand geschüttelt und sich knapp vorgestellt: »Fischer«. Damit hatte die Unterhaltung schon geendet: Botwinnik sprach zwar passabel Englisch, war aber nicht gerade für Herzlichkeit bekannt.
Botwinnik nahm an, dass Bobby einmal den Weltmeister herausfordern – vielleicht sogar ihn, Botwinnik, selbst – und möglicherweise den Titel erringen würde. Doch selbst wenn es nie so weit kam, die Schachwelt würde diese Partie zwischen Fischer und ihm vielleicht noch in hundert Jahren studieren und analysieren, das wusste er. Da er die Blamage fürchtete, gegen Bobby zu verlieren, bat Botwinnik die Turnierleitung, die Partie in einem abgetrennten Raum auszutragen. So würde er in der Stunde seiner eventuellen Niederlage wenigstens keine Zuschauer haben. Doch solch ein Raum stand nicht zur Verfügung – ganz abgesehen davon, dass die Organisatoren die publicityträchtige Partie natürlich in der Öffentlichkeit stattfinden lassen wollten. Aus den Tausenden Partien dieser Olympiade würde das Aufeinandertreffen Fischer–Botwinnik turmhoch herausragen, und die Veranstalter wollten die Schachfans nicht um dieses Ereignis bringen.
Mit seiner Brille mit Stahlrand und seinem grauen Anzug wirkte Botwinnik ernst, geschäftsmäßig. Er war zugeknöpft, auch im wörtlichen Sinn, und trat auf wie ein Wissenschaftler – der er auch tatsächlich war. Botwinnik wusste, dass er die Sowjetunion repräsentierte, und wählte seine Worte jederzeit so präzise, als würden sie irgendwo niedergeschrieben. Sein Schüler Anatoli Karpow sagte ihm nach, er sei »unnahbar gewesen wie ein Gott im Olymp«.
In den ersten vier Wochen der Olympiade hatte Bobby schon 15 Partien gespielt, als er endlich auf Botwinnik traf. Seine Maschinerie lief längst wie geschmiert. Als die zwei sich am Tisch trafen, schüttelten sie sich wortlos die Hand. Beim Hinsetzen stießen sie leicht mit den Köpfen zusammen. »Sorry«, sagte Bobby, das zweite Wort, das er je mit Botwinnik gesprochen hatte. Wieder bekam er keine Antwort.
Als das Spiel abgebrochen wurde, schien Bobby in Gewinnposition.
Danach aß Bobby allein zu Abend, warf einen flüchtigen Blick auf die Stellung und ging siegesgewiss früh zu Bett. Ganz anders die Sowjets. Michail Tal, Boris Spasski, Paul Keres, Efim Geller und der Trainer der Mannschaft, Semion Furman, grübelten gemeinsam mit Botwinnik bis halb sechs am nächsten Morgen. Sie riefen sogar in Moskau an und baten Juri Awerbach, eine Kapazität für Endspiele, um Rat. Geller fand schließlich einen subtilen Weg, wie man noch zu einem Remis kommen könnte, obwohl Fischer von den Figuren her deutlich im Vorteil war.
Am nächsten Morgen wurde Botwinnik beim Frühstück befragt, wie er
Weitere Kostenlose Bücher