Endspiel - Genie und Wahnsinn im Leben der Schachlegende Bobby Fischer
nach Belgrad und aß im Hotel Metropol mit dem Schachkolumnisten George Koltanowski und Larry Evans zu Mittag. Evans würde bei dem Match selbst nicht mitspielen, aber darüber berichten und Fischers Sekundanten geben. Optimistisch und untypisch freundlich gab Bobby den meisten Kellnern des Hotels Autogramme. Als eine Schachkolumnistin ihn nach dem Mittagessen um ein Interview bat, gewährte er es ihr. Sie tat einen Freudenjuchzer, umarmte Bobby und küsste ihn auf die Wange. Bobby ertrug es einigermaßen gefasst. Evans frotzelte danach: »Hätte Bobby die Frau geküsst, das wäre eine Nachricht gewesen!« Darüber musste auch Bobby lachen. Hinterher inspizierte er den Austragungsort, das Theater des Dom Syndikata am Marx-Engels-Platz. Der riesige Kuppelbau wurde normalerweise für Gewerkschaftsversammlungen genutzt und war für die Schachveranstaltung umgebaut worden. Bobby war zufrieden.
Als Bobby am ersten Spieltag zu seiner ersten Partie erschien, sprang ihm etwas ins Auge: An einer Wand hing sein Bild, drei Stockwerke hoch. Er blickte sich um und sah ebenso große Bilder der 19 anderen hier versammelten Großmeister. Ein grübelnder Michail Tal (der mit dem stechenden Blick) hing da; Bent Larsen, das blonde Haar gerade nach hinten gekämmt; Michail Botwinnik, der aussah wie ein konservativer Geschäftsmann; der Tschechoslowake Vlastimil Hort, der einige Monate jünger als Bobby war; Bobbys Freund Svetozar Gligorić, der gut aussehende, umgängliche und beliebte schnauzbärtige Serbe; und der Armenier Tigran Petrosjan, gegen den Bobby gleich antreten würde.
Bobby reagierte auf Petrosjans Eröffnung mit einer unerwarteten Variante. Später verriet Bobby, dass er den Russen absichtlich in eine Stellung locken wollte, die er Jahre zuvor analysiert und für die er eine brillante Lösung gefunden hatte. Petrosjan wehrte sich zwar noch wacker, verlor aber nach 39 Zügen. Eine Jury verlieh Bobby daraufhin den Preis für die beste Partie der ersten Runde. Das Publikum applaudierte volle drei Minuten lang, trotz der Versuche der Saalordner, für Ruhe zu sorgen. So war Bobby: Er ließ niemanden kalt, und gelegentlich riss er selbst das reservierte Schachpublikum zu Gefühlsausbrüchen hin. Zahllose Fans schrieben ihm bewundernde Briefe, darunter sogar ein paar Heiratsanträge. Auf seinen Sieg angesprochen, meinte Bobby hinterher jedoch: »Ich hätte besser spielen können.«
Auf die dritte Runde war das Publikum in Belgrad so gespannt, dass der riesige Saal sich in weniger als einer halben Stunde komplett füllte. Schwarzmarkthändler verließen ihre üblichen Plätze vor Theatern und Kinos und verkauften am Dom Syndikata heiß begehrte Eintrittskarten. Der jugoslawische Ministerpräsident Ribičič, der die ersten beiden Runden verfolgt hatte, ließ sich auch diese nicht entgehen.
Fischer einigte sich mit seinem Gegner indes schnell auf ein Remis, danach verfolgte er entspannt die anderen Partien. Samuel Reshevskys Partie gegen Wassili Smyslow war abgebrochen worden. Zurück im Hotel Metropol setzte sich Bobby zu Reshevsky und half ihm bei der Analyse der Stellung. Nach zehn Jahren erbitterter Konkurrenz war das die erste Freundschaftsgeste Bobbys gegenüber seinem Rivalen. (Reshevsky gewann die Hängepartie am nächsten Tag.) In Bobbys viertem und letztem Spiel hielt er ein Remis.
Das Sowjetteam gewann am Ende mit einem Punkt Vorsprung gegen den Rest der Welt, mit 20½ zu 19½, war aber angesichts des knappen Ausgangs erschüttert. »Das ist eine Katastrophe«, meinte ein Teammitglied. »Zu Hause verstehen sie das nicht. Die glauben doch, dass mit unserer Kultur etwas nicht stimmt.« An den ersten vier Brettern gewannen die Sowjets eine einzige Partie – von 16! Bobby Fischer war das erfolgreichste Mitglied seiner Mannschaft, mit 3 zu 1 Punkten. Als Sieger am zweiten Brett bekam er ein russisches Auto, einen Moskwitsch.
Bobby beschloss sofort, das Auto zu verkaufen. Er sagte: »Letztes Jahr hatten wir in den Vereinigten Staaten 56 000 Tote nach Autounfällen. Da nehme ich doch lieber den Bus.«
Nach dem Turnier posierten die Teilnehmer für ein Erinnerungsfoto – alle außer Bobby, der wie üblich fehlte. Der Argentinier Miguel Najdorf, der Bobby ziemlich gut kannte, sagte: »Er zieht vor, allein in die Schachgeschichte einzugehen.«
Bevor Bobby Weltmeister werden konnte, musste er vorher erst noch einen vorderen Platz bei einem Interzonenturnier belegen. Das sollte ihm in Palma de Mallorca 1970 recht
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