Endstadium
den Balkon nicht aus dem Blick. Doch es tat sich nichts. Irgendwann erlosch wie jeden Abend die Beleuchtung, und kurze Zeit später verstummte auch die Musik. Einzig die Leuchtstäbe an der Kathedrale behielten ihr violettes Licht und zeichneten die Konturen der Türme in den Nachthimmel.
Sie gingen zu Bett. Stephan fiel in einen unruhigen Schlaf.
11
Am anderen Morgen eilte er mit Marie in den gegenüberliegenden Gebäudekomplex. Das Zimmer im zweiten Stock, viertes von links, musste es sein. Auf dem Etagenflur standen Servicewagen des Personals. Die Tür zum Zimmer der Polloscheks war weit geöffnet. Zwei Hotelangestellte führten die Grundreinigung durch. Das Bett war abgezogen, die benutzten Laken lagen mit den Hand- und Badetüchern auf dem Boden. Es roch nach Zigarre. Schwer und süßlich.
»Widerlich«, fand Marie, als sie hineingingen. »Es sollte nur noch Nichtraucherzimmer geben.«
Stephan versuchte sich mit englisch-deutschem Kauderwelsch nach dem Verbleib der Bewohner zu erkundigen. Eine der beiden Frauen schien ihn zu verstehen. Sie breitete die Arme aus und flatterte mit den Händen. Sie lachte.
»Abgeflogen-ausgeflogen, ich verstehe«, meinte Stephan. Er stützte resigniert die Hände in die Hüfte. Jetzt lachte auch die andere Frau. Stephan sah auf dem kleinen Schreibtisch zwei 20-Euro-Scheine liegen. Die Polloscheks hatten reichlich Trinkgeld gegeben.
Marie und Stephan unternahmen einen zweiten Versuch beim Hotelempfang. Auch die Angestellte, die sie nun bediente, sprach bestes Deutsch. Die vom gestrigen Tage war glücklicherweise nicht zu sehen.
»Wir hatten uns mit dem Ehepaar auf Zimmer 6113 angefreundet und gestern den Abend gemeinsam auf der Plaza verbracht. Die Dame war so nett, mir ihre Strickjacke zu leihen«, erzählte Marie. »Leider sind die beiden, wie wir gerade erfahren haben, heute Morgen abgereist. Wir wären Ihnen sehr dankbar, wenn Sie uns Namen und Adresse mitteilen könnten, damit wir ihr die Jacke zuschicken können. Uns ist das sehr peinlich.«
Die elegant gekleidete junge Frau hinter der Theke lächelte verständnisvoll, tippte etwas in ihren Computer, checkte und wiederholte ihre Eingabe.
»Es tut mir leid«, sagte sie schließlich, ohne ihr Lächeln zu verlieren. »Ich darf Ihnen keine Auskünfte geben. Es ist zum Schutz unserer Gäste. Darf ich Ihnen den Vorschlag machen, die Jacke hier abzugeben? Wir werden uns dann darum kümmern, dass die Jacke wieder zu ihrem Besitzer kommt. Ich werde gern vermerken, dass Sie sich in der Sache so bemüht haben, Frau …« Sie blickte mit großen Augen auf. »Bitte verstehen Sie, dass wir bei der Vielzahl unserer Gäste um so mehr Vorsicht walten lassen müssen. Es ist selbstverständlich kein Misstrauen gegen Ihre Person«, warb sie weiter. »Dürfen wir Ihnen auf Kosten des Hauses einen Drink servieren?« Sie wusste, wie in solchen Fällen zu verfahren war.
Marie schüttelte den Kopf.
Stephan fand sich pünktlich zum regelmäßigen Treffen im Haus von Rosell ein.
Seine Frau führte ihn ins Wohnzimmer.
»Es hat heute keinen Zweck«, erklärte sie mit leiser Stimme. »Mein Mann erbricht sich immer wieder. Er hat eine schlimme Nacht gehabt. Die Medikamente haben extreme Nebenwirkungen. Es ist ein Auf und Ab. Wir wussten das. – Und zu allem Überfluss auch noch dieses …« Sie nahm einen geöffneten Brief von einer reich verzierten Kommode und reichte ihn Stephan. Er erkannte auf den ersten Blick den Briefkopf des Anwalts, der Hobbeling in dem damaligen Prozess vertreten hatte. Er hatte die Schriftsätze des Kollegen in Löffkes Akte gelesen. Er überflog den Brief:
›… nehmen wir mit Befremden zur Kenntnis, dass Sie damit fortfahren, unseren Mandanten für Ihr gesundheitliches Schicksal verantwortlich zu machen. Insoweit ist nicht erheblich, dass Sie es unterlassen, diesen Vorwurf wörtlich zu wiederholen. Sie tun es konkludent, indem Sie auf den vermeintlichen Behandlungsfehler anspielen und die Presse den Namen meines Mandanten im Zusammenhang mit Ihrem Umzug nach Gran Canaria nennen lassen. Gerade weil das damalige und rechtens zu Ihrem Nachteil ausgegangene Verfahren eine erhebliche Beachtung in der Öffentlichkeit fand, ist der neuerliche in der hiesigen Presse erschienene Zeitungsartikel geeignet, meinen Mandanten abermals in Misskredit zu bringen. Die mediale Verbreitung bringt die gegen Herrn Hobbeling seinerzeit erhobenen Vorwürfe in Erinnerung. Sie wissen, dass auch bloße Gerüchte einem
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