Endstadium
antwortete nicht.
»Siehst du«, frohlockte sie.
»Warum kniest du dich so in diese Sache hinein?«, fragte er nach und bedauerte im selben Moment, die Frage gestellt zu haben.
»Ich habe alle Zeit der Welt«, sagte sie. »Leider habe ich für das Lesen der heute eingetroffenen Absagen nur knapp zwei Minuten gebraucht – inklusive Öffnen der Briefe. Tut mir leid, Stephan. Ich habe auch schon die letzten zwei Kisten ausgepackt.«
»Marie!«
»Ist schon gut, Stephan! Dich bescheint die Sonne, das weiß ich ja. Hier regnets. So unterschiedlich ist die Welt. – In jeder Beziehung.«
Sie hängte ein.
Stephan warf sein Handy wütend auf das Bett.
Abends ging er auf die Plaza vor der imposanten Hotelkathedrale und setzte sich nicht zufällig an den Tisch mit den beiden jungen Frauen, die er auf der Küstenpromenade gesehen hatte, als er von den Rosells zurückkehrte. Wichtig war nur die eine, die vielleicht 28-jährige Blonde mit dem türkisfarbenen engen Top und den weißen Bermudashorts. Die Band spielte wie jeden Abend unter dem Pavillondach. Stephan erkannte nach den ersten Liedern das heutige Repertoire. Gleich würde wieder ABBA kommen, später würde der eine Sänger Joe Cocker interpretieren. Alles lief wie immer in dem Hotel. Stephan lauschte mit dem einen Ohr der Musik und mit dem anderen den beiden Frauen. Eine knappe Stunde später wusste er, dass er es mit Conny und Alex aus Köln zu tun hatte, das heißt, er hatte es nur mit Conny zu tun, der schlanken Blonden, die sich mit ihrer Freundin diesen Urlaub zum bestandenen Zweiten juristischen Staatsexamen gegönnt hatte. Noch mal eine halbe Stunde später kam er mit beiden ins Gespräch, das heißt, er bediente Alex im Gespräch artig mit. Was Conny sagte, sog er aufmerksam ein. Conny würde nach dem Urlaub mit Bewerbungen bei namhaften Kanzleien beginnen. Sie war voller Optimismus.
»Da kann nichts schiefgehen«, bekräftigte er und spendierte beiden einen Drink. »Es geht alles, wenn man nur richtig will«, log er.
Conny strahlte. Die Zukunft lag wie eine weite sprießende Ebene vor ihr. Sie blieben, bis die Musik endete und die Beleuchtung auf den Balkonen erlosch. Er begleitete beide noch zu ihrem Zimmer. Sie wohnten in einem der günstigeren Räume ohne Meerblick. Man könne ja den nächsten Abend auf seinem Balkon einen Wein trinken. Man habe einen wunderbaren Blick über die Bucht bis zum Horizont. Conny und Alex lachten. Sie würden sich freuen, ihn wieder zu sehen, sagte die rundliche Alex.
Er ging beschwingt in sein Zimmer, warf die Tür hinter sich zu und setzte sich auf den Balkon. Kurze Zeit später brummte sein Handy. Stephan sah in das dunkle Zimmer und auf dem noch nicht abgedeckten Bett das bläulich leuchtende Display seines Handys. Er ging hinein und rief die Antwort ab.
›Ich liebe dich über alles‹, schrieb Marie. ›Vergiss das nicht.‹
Er schämte sich.
Er frühstückte am nächsten Morgen, sobald das Hotelrestaurant geöffnet hatte. Er wollte sicher sein, Conny und Alex nicht treffen zu müssen. Sie würden noch schlafen und erst kurz vor elf erscheinen, wenn sich die Kellner anschickten, das Frühstücksbüffet abzuräumen und die Tische für das Abendessen einzudecken. Der tägliche Ablauf im Villa del Conde.
Dr. Schreiber traf mit Jens Hobbeling gegen 14 Uhr ein. Stephan war kurz vorher im Haus der Rosells erschienen. Das Taxi hielt vor dem Anwesen. Stephan beobachtete die Ankunft der beiden durch das Dielenfenster. Dann ging er mit Frau Rosell hinaus. Dr. Schreiber trat in bedeutungsvoller Pose auf: schwarzer Anzug, weißes Hemd, die Krawatte sorgfältig gerichtet, dazu eine altmodische Sonnenbrille. Er trug einen weinroten dickbauchigen Aktenkoffer. So trat er in jedem Gerichtstermin auf. Was ihn in der Heimat seriös erscheinen ließ und anderen Respekt einflößte, wirkte in der Leichtigkeit der Ferieninsel deplatziert und albern. Die Sonnenbrille verlieh ihm ein eher mafiöses Aussehen. Jens Hobbeling war mit Jeanshose und T-Shirt bekleidet. Er wirkte wie ein Sunnyboy, der genau hierher passte und im Schatten von Dr. Schreiber wie ein Schützling des gestrengen Patrons auftrat.
Stephan sah flüchtig auf den gegenüberliegenden Hang. Es war niemand zu sehen.
Julita Rosell geleitete Stephan und die Besucher in das Zimmer ihres Mannes. Stephan fiel als Erstes der süßliche Geruch auf, der das Zimmer erfüllte. Der Geruch hatte etwas Penetrantes, Abstoßendes. Er fühlte sich an eine Obduktion
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