Endstadium
Bier.
»Wir müssen an der Sache dranbleiben«, sagte Schürmann und blickte konzentriert auf die Straße.
»Aber Sie machen doch Urlaub«, entgegnete Stephan. »Diesen Zeitaufwand bezahlt Ihnen keiner.«
»Das weiß ich«, entgegnete Schürmann. »Aber keine Gesellschaft funktioniert, wenn alle wegschauen. Die Versicherung wäre gut beraten, in diese Sache zu investieren. Ich habe immer wieder in den fast 40 Jahren meiner Dienstzeit einen guten Riecher gehabt, Herr Knobel. Auch wenn meine Versicherung anders dachte. Man muss an eine Sache glauben. Das ist überall im Leben so. Es kommt nur Großes zustande, wenn eine Idee ihre Fürsprecher und Macher hat. Dagegen ist ein geopferter Urlaub doch gar nichts. – Wovon reden wir denn hier, Herr Knobel? Sie als Anwalt dürften auch nicht anders sein. Sie müssen an einer Sache dranbleiben. Wie ein Terrier! – Oder sind Sie anders gestrickt?«
Er fuhr, so schnell es das Auto zuließ, und öffnete noch während der Fahrt die nächste Bierdose. Stephan schwieg eine Weile und sah nach draußen. Die Autobahn führte nicht am Atlantik entlang, sondern nahm eine kurvige Route durch das bergige Hinterland. Einige kurze Tunnel und Talbrücken wechselten einander ab. Die Erde war staubtrocken. In den verdorrten braunen bröseligen Boden krallten sich vereinzelt Kakteen. An einigen Hängen standen neue Hotelanlagen, weiße Wohnwürfel mit symmetrisch angepflanzten Palmen. Die Sonne stand schon weit im Westen. Sie spiegelte sich weiß glitzernd in den Scheiben der Feriendomizile. In einer lang gezogenen Linkskurve öffnete sich die Hügelkette und gab den Blick zum Meer frei. Für Augenblicke sah Stephan die grauen Silotürme des Zementwerks von Arguineguín, dann schoben sich wieder Abhänge dazwischen. Die Erde war braunrot und zerklüftet. Stephan sah einige ausgetretene Pfade, die von irgendwoher kamen und irgendwohin führten.
»Sie werden jetzt wieder das Haus von Rosell beobachten?«, fragte Stephan rhetorisch.
»Jeden Tag, bis in die Nacht hinein, Herr Knobel«, antwortete Schürmann entschlossen. »Irgendwann werde ich nachts von draußen in das erleuchtete Zimmer von Rosell sehen. Und er wird aufstehen wie ein junger Gott, das verspreche ich Ihnen. Er wird auf Toilette müssen oder auch nur an den Kühlschrank wollen. Aber er wird aufstehen. Und dann bin ich da, Herr Knobel, ich werde ihn erst fotografieren und dann stellen. Ich bin auf sein Gesicht gespannt, Herr Knobel. Ich habe es mir so oft ausgemalt.«
»Wäre es nicht viel spannender, ihm oder der vermeintlichen Witwe die Fakten erst dann vorzuhalten, wenn sie die Summe aus der Lebensversicherung anfordern wird?«
»Nein!« Schürmann schüttelte lachend den Kopf. »Ich will ihn sehen, wenn er sich erhebt. Außerdem weiß ich gar nicht, wie geschickt er für immer abtaucht. Ich will es denen vorher versalzen, Herr Knobel. Ich will selbst die Wut und Enttäuschung im Gesicht von Rosell sehen, wenn seine jahrelange Vorbereitung wie eine Seifenblase zerplatzt. – Können Sie das verstehen?«
Stephan antwortete nicht sofort. Er drehte wieder die Scheibe runter. Der Gestank wurde unerträglich. Das Bier lief blubbernd aus der Dose in Schürmanns Mund. Er wischte mit dem Ärmel seines durchschwitzten Oberhemdes nach.
»Die Versicherungsgesellschaft scheint Zweifel zu haben«, sagte Stephan vorsichtig. »Sie engagiert sich nicht.«
»Sehen Sie«, triumphierte Schürmann. »Sie hat kein Alphatier mehr, das die Spuren lesen kann.«
»Das Ende mit dem Boot überzeugt mich nicht richtig«, gestand Stephan. »Wenn es am Ende nur auf einen vorgetäuschten Unfall hinausläuft, hätte sich Rosell das ganze Theater vorher sparen können.«
»Aber so kann er seinen Tod viel glaubhafter vermitteln. Denken Sie daran: Als todkranker Mensch kann er sich nicht mehr selbst aus dem Meer retten. Es ist plausibel, wenn er verstirbt und die Frau überlebt. Eine zierliche Frau wird einen Menschen, der selbst keine Kräfte mehr hat, nicht mehr aus dem Meer retten können.«
»Und der ganze Aufwand nur für die Versicherungssumme? – Er ist doch erst Mitte 40.«
»Meinen Sie nicht, dass diese Summe für den Rest seines Lebens reicht? Ein Leben ohne Arbeit? An diese Summe würde ich legal nicht kommen, obwohl ich meiner Gesellschaft ein Vielfaches eingespielt habe.«
»Er muss irgendwo wieder auftauchen«, warf Stephan ein.
»Wer soviel Fantasie wie Rosell hat, findet ein Refugium«, war sich Schürmann sicher. »Es hat
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