Endstadium
sich mit ihr an einem Ort, an dem es unwahrscheinlich ist, entdeckt zu werden. Hobbeling, den einige Menschen im Flugzeug oder auf der Insel aus der Zeitung wiedererkennen könnten, reist mit kurzem Haar. Man erkennt ihn nicht, wenn man nicht genau hinschaut. Perfekt. Und was werfen wir der Frau vor? Dass sie sich ein Erbe und eine Lebensversicherung sichern will? Ich kann das verstehen. Kann man ihr vorwerfen, dass sie sich in einen anderen Mann verliebt hat? Natürlich nicht.«
»Aber du weißt genauso gut wie ich, Stephan, dass Rosell mit Sicherheit nicht dulden würde, dass seine Frau ausgerechnet mit dem Mann zusammen ist, dem er mutmaßlich seinen Tod zu verdanken hat. Du hast mir erst vor einigen Tagen gesagt, dass du als sein Anwalt auf seine Interessen achten musst und beispielsweise nichts über das Foto mit dem Silo sagen darfst. Meinst du nicht, dass du Rosell gegenüber verpflichtet bist zu sagen, was wir nun wissen? Vielleicht will er ganz andere Regelungen treffen!«
»Ich glaube, dass er gar nicht mehr in der Lage ist, alles aufzunehmen«, sagte Stephan. »Und selbst wenn er mich verstehen würde: Macht es Sinn, ihn in den letzten Tagen seines Lebens mit einer Enttäuschung zu konfrontieren, die ihn in den Tod begleitet? Er kann doch nicht mehr in Frieden sterben, wenn man von so etwas überhaupt reden kann. Mal abgesehen davon, dass wir nichts beweisen können und die Geschichte, warum wir Hobbeling überhaupt verfolgt haben, wie erfunden klingt. Denn sie impliziert ja, dass wir an einen Versicherungsbetrug geglaubt haben. Wie soll ich das alles Justus Rosell noch vermitteln, während seine Frau daneben steht, die selbstverständlich alles leugnet und mich schließlich rauswirft, wenn ich dieses Thema auch nur anschneide?«
Marie sah eine Weile auf das Meer.
»Trotzdem«, sagte sie. »Du musst dich für deinen Mandanten einsetzen!«
Was sollte Stephan ihr entgegnen? Sie hatte recht.
»Und was ist, wenn Julita Rosell und Jens Hobbeling sich schon vor der Erkrankung kannten und beide die günstige Gelegenheit genutzt haben, Justus Rosell über seine Erkrankung im Unklaren zu lassen?«, trumpfte sie auf. »Es war doch letztlich die Empfehlung von Julita Rosell, der ihr Mann gefolgt ist und den Arzt in Unna aufgesucht hat. Stimmt es überhaupt, dass Hobbeling Mandant des Steuerberaters war, bei dem Julita einmal gearbeitet hat? – Wir müssen viel weiter in die Vergangenheit zurückgreifen.«
24
Stephan suchte am nächsten Morgen nach dem Frühstück das Haus von Rosell auf. Seine Frau begrüßte ihn freundlich und dankte für sein Interesse, aber sie wies Stephan zurück. Sie könne ihn nicht zu ihrem Mann lassen. Die Nacht sei sehr schlecht gewesen, er habe vor Schmerzen keinen Schlaf gefunden und sei mit seinen Kräften am Ende.
»Ein anderes Mal vielleicht«, sagte sie zum Abschied. »Wenn es noch ein anderes Mal gibt.«
Sie schluckte und wandte sich abrupt ab.
Stephan verließ das Grundstück durch das schmiedeeiserne Tor und schloss es leise hinter sich. Er ging ein Stück die Straße weiter, so weit, bis er von Rosells Haus nicht mehr gesehen werden konnte, und suchte mit seinen Blicken angestrengt den Hang auf der anderen Straßenseite ab. Er sah nichts, aber er war sich sicher, dass Schürmann dort wieder irgendwo hinter einem Gebüsch saß. Stephan nahm sein Handy. Schürmanns Nummer war noch gespeichert. Er wählte ihn an. Schürmann nahm nicht ab, aber Stephan sah ihn nun vorsichtig aus seinem Versteck winken. Heute saß er weiter oben am Hang, so weit oben, dass man ihn vom Haus der Rosells gar nicht sehen, umgekehrt aber auch er wohl kaum beobachten konnte, was sich unten auf dem Grundstück tat. Stephan kletterte abseits über einen staubigen Pfad empor, nahm noch einen Umweg, um nicht in das Blickfeld der Rosells zu geraten, hielt sich an verdorrten Sträuchern und den ledrigen Blättern mediterraner Gewächse fest, bis er im Versteck von Schürmann eintraf. Schürmann hatte sich hinter einer weit ausladenden Kaktee eingerichtet, auf dem abschüssigen bröseligen Gelände eine Decke ausgelegt und sich darauf sitzend mit seinen Füßen gegen einen aus dem Boden ragenden Fels gestemmt, um nicht abzurutschen. Es stank nach Zigarren, Bier und Urin.
»Dass Sie das hier aushalten!«, wunderte sich Stephan.
Schürmann blinzelte ihn an, nahm das Fernglas von der Decke und bat ihn mit einer Handbewegung, sich dazuzusetzen.
Schürmann öffnete provokativ eine Dose
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