Endstation Belalp - ein historischer Bergkrimi
Amalia wieder hinaus auf den Gang geht und auf der Treppe zur Dépendance hinunterschaut, denkt sie nach. Es handelt sich doch bestimmt um ein Versehen. Die junge Penelope ist ungeübt in den Pflichten einer Gattin. Sie war vielleicht verwirrt, etwas schwindelig am Morgen gleich nach dem Aufstehen. Hat nicht ganz genau geschaut. Sie wird sich vertan haben, wie schnell passiert so etwas. Sie wird ihrem Gatten zu viel von dem Medikament gegeben haben, und jetzt fühlt sie sich schuldig. Aber, ach, nein, es kann keine Verwechslung, kein Versehen gewesen sein, wenn der Doctor sagt, die Inhalte seien vertauscht worden. Es muss eben doch jemand … aber wer? Und dann müsste man einen Moment finden, da niemand ins Zimmer kommt. Gut, während der Mahlzeiten, da sind Personal und Gäste voll beschäftigt. Da reicht ein vorgetäuschter Gang auf die Toilette, und schon ist es geschehen. Nein, da kann man lange überlegen, jeder war irgendwann einmal draussen. Und man weiss nicht, wann es genau war. Gut, die Lady hat gesagt, sie gibt ihm das Chloral immer am Abend zum Schlafen. Da hätte doch … hm, aber vielleicht hat sie ihm dann gestern das andere zum Schlafen gegeben. Amalia überlegt, dass McGregor in diesem Falle letzte Nacht Schlafprobleme gehabt haben müsste. Sie will Lady Penelope später danach fragen.
Weva hat schon angefangen, einen grossen Teller Fleisch, Wurst und Brot anzurichten. Sie macht schöne Platten, denkt Amalia. Weva sieht zu Amalia herüber. Unter ihrem blau gemusterten Kopftuch lugen einige Strähnen ihres weissen Haares hervor. Amalia packt ein kleines Holztaburett und lässt sich seufzend darauf nieder.
«Kommt ihr denn vorwärts?», erkundigt sich Weva, die ihre Arbeit am Fleischteller jetzt unterbricht, um ihrer Nichte eine Stärkung zuzubereiten. «Hier, iss etwas, du kannst diese Sache nicht, ohne zu essen, durchstehen.»
Doch Amalia wird es beim Anblick der Suppe schlecht. Normalerweise liebt sie die Fettaugen auf Wevas Suppe. Die wärmen Herz und Magen, wenn man sie nur schon ansieht. Jetzt aber spürt sie einen dicken Klumpen im Magen. Unmöglich, etwas hinunterzubringen.
«Kein weiterer Brief für mich?», fragt Amalia.
Weva fährt mit ihren Verrichtungen fort. Da sie nicht antwortet, schliesst Amalia, dass es keinen Brief gegeben hat. Weva kann manchmal so still sein und in ihrer Stille doch unendlich viel mitteilen. Amalia ist es schon oft passiert, dass sie Weva eine Frage gestellt hat und von ihr keine Antwort bekommen hat. Aber die Art und Weise, wie Weva schweigt, lässt sie dann selber eine Antwort finden.
Amalia schaut ihr gern beim Arbeiten zu. Weva hat unterdessen angefangen, Kartoffeln zu schälen. Sie hält ein Blechsieb auf der Schürze und klaubt die Kartoffeln einzeln aus dem Haufen hervor. Amalia mustert sie aufmerksam. Manchmal schneidet sie eine ganze Hälfte ab. Meistens aber sticht sie nur ein oder zwei Augen heraus. Dann schneidet sie mit dem Messer eine hauchdünne Schale von der Kartoffel, mit zügigen Bewegungen, sorgfältig darauf achtend, dass nichts verschwendet wird. In ihrem ganzen Leben hat Weva bestimmt Kartoffeln für das halbe Oberwallis geschält, denkt Amalia. Kartoffeln hat es immer gegeben. Brot nicht, aber Kartoffeln. Jetzt, da die englischen Gäste hier sind, geht es natürlich luxuriös zu und her. Pommery-Champagner musste sie auf Anordnung des Professors sogar liefern lassen. Und jetzt kann er ihn nicht einmal trinken.
«Feuchter Keller», bemerkt Weva.
«Hm, was?», Amalia schreckt aus ihren Gedanken auf.
«Die Kartoffeln. Schneiden wir das Faule halt heraus. Sonst werden sie es wieder nicht essen. Meinen noch, wir wollen sie vergiften», sie lächelt.
Eine Weile hört man nur, wie das Messer der Kartoffel die Schale abzieht. Chaitsch – chaitsch – chaitsch . Auch das kann Weva schneller als alle anderen.
«Und – wie sieht es aus?», fragt Weva endlich.
Amalia schüttelt den Kopf.
«Nichts, keine Ahnung.»
«Was wussten die beiden?», Weva lässt nicht locker.
«Zenger? Unter uns – ein unangenehmer Mensch. Aber ob er einen umbringen würde wegen einer Gipfelstürmerei? Ich glaube nicht. Sind alle ein bisschen in diese Matterhorngeschichte verwickelt.»
«Und?», Weva nickt aufmunternd.
«Was?»
«Habt ihr wenigstens eine Idee?», will Weva wissen.
Amalia denkt nach. Würde sie den Professor umbringen wollen, dann doch wohl nicht als Bergsteigerkollege an einem so wichtigen Tag, an dem alle anderen auch dabei sind. Weswegen
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