Endstation Kabul
verschaffen. Diese kleine Inventur wurde regelmäßig gemacht. Dazu wurden einige Kasernen der Polizei und der Armee (auch der privaten Truppen) angefahren, und es wurde nachgeschaut, ob sich seit der letzten Kontrolle etwas verändert hatte. In einige der fraglichen Gebäude hatten wir bisher keinen Zutritt gehabt, und so nahmen wir uns vor, diesen einen Besuch abzustatten. Um hereingelassen zu werden, legten wir uns eine Tarnstory zurecht: Wir erzählten den Leuten einfach, wir hätten die Erlaubnis des Polizeichefs, uns mal die Kasernen anzuschauen. Wir sollten überprüfen, ob wir irgendwie helfen könnten, also die Bedingungen für die dort stationierten Soldaten und Polizisten ein wenig angenehmer zu machen. Und tatsächlich: Bei einem dieser fraglichen Objekte glaubten die Leute uns und ließen uns hinein.
Als wir in der Halle standen, sahen wir etliche Fahrzeuge vom Typ der guten alten T-55 stehen. Die sechs Panzer waren allesamt gut gepflegt. Zumindest äußerlich machten sie einen funktionsfähigen Eindruck, was uns nicht reichte. Wir wollten natürlich wissen, wie gut die Dinger tatsächlich in Schuss waren. Dafür hatten wir so unsere Tricks auf Lager. Am besten behauptete man, dass die Geräte eh nicht funktionieren. Kaum hatte einer von uns diesen Verdacht geäußert, sah ich mit einem müden Lächeln zu, wie zwei Afghanen auf den Panzer krabbelten, die Luken öffneten und den Motor anließen. Er sprang sofort an. Das Schauspiel wiederholte sich noch fünfmal. Wir argwöhnten nämlich bei jedem weiteren Panzer, dass sie uns nur die funktionstüchtigen zeigten. Das wollten sie nicht auf sich sitzen lassen. Also lieferten sie uns den Beweis und ließen die Panzer der Reihe nach an. Mir war klar, warum die alten T-55 alle tadellos intakt waren, warum die Afghanen ihren Waffen beinahe mehr Aufmerksamkeit schenkten und Pflege zuteil werden ließen als sich selbst oder ihren Mitbürgern. Nach 23 Jahren Krieg und dem Gefühl der permanenten Krise, die jederzeit wieder aufbrechen konnte, waren diese Panzer eine Art Lebensversicherung für sie.
Als das Schauspiel vorbei war, beklagten sich die Afghanen bei uns, dass sie wenig Sprit hätten. Solche Probleme kannten wir bei der ISAF nicht. »Wenn wir euch Sprit besorgen, dürfen wir dann mal eine Runde in den T-55 drehen?«, fragte einer aus der Runde. »Aber selbstverständlich!«, ließen sie uns freudestrahlend wissen. Also fuhren wir zurück und besorgten ein paar Kanister Diesel. Die meisten der Jungs waren richtig scharf darauf, einmal mit einem alten russischen Panzer zu fahren. Nachdem wir den Afghanen die Kanister ausgehändigt hatten, fuhren meine Kameraden abwechselnd ein paar Runden auf dem Hof.
Der T-55 bereitete ihnen jedoch nicht unbedingt ein Fahrvergnügen, denn selbst bei offener Luke war die Sicht stark eingeschränkt, die Steuerung war sehr schwergängig. Die Kameraden registrierten, dass die innenliegenden Geräte gut in Schuss waren: Alles war picobello sauber, die beweglichen Teile waren gut geölt und gefettet. Die Afghanen hatten sich am Rand in Sicherheit gebracht und lachten über unsere doch recht unbeholfenen Fahrversuche. Ich ließ meinen holländischen Kameraden den Vortritt und amüsierte mich köstlich. Schmunzelnd dachte ich darüber nach, ob vielleicht einer dieser Panzer oder dieser Männer vor noch nicht allzu langer Zeit bei der Aktion »Kabul Garrison« dabei gewesen war. Möglich wäre es, lag diese Kaserne doch ganz in der Nähe zu dem Gebäude, in dem sich damals unser vorgeschobener Gefechtsstand befand. Wir hakten diesen Besuch als vertrauensbildende Maßnahme mit Spaßfaktor ab und verließen bald darauf das Gelände, um unsere Zählung an anderen Standorten fortzusetzen.
Im Camp machte ich mir Gedanken über eine weitere Verlängerung meines Engagements in diesem Land. Die Kommandos hatten bereits ihren Out-Termin erhalten, es war der 3. November 2002. Ich wollte ebenfalls bis zu diesem Zeitpunkt bleiben, um möglichst gemeinsam mit ihnen Afghanistan zu verlassen. Also schrieb ich meinen Antrag auf Verlängerung – allerdings mit sehr geringer Aussicht auf Erfolg, wie mir selbst klar war. Mein Verhältnis zu Hauptmann Fiebig von der Aufklärungskompanie war seit dem Vorfall am Stadion vollends beschädigt. Ich konnte mir kaum vorstellen, dass er mein Ansinnen unterstützen würde, und hoffte darauf, dass der Chef der KCT meine Verlängerung würde durchsetzen können. Er hatte mir bereits signalisiert, dass er es
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