Endstation Kabul
Rede, Achim. Und genauso werde ich das auch in meinen Bericht schreiben.«
Alex und ich versuchten, durch Dean an weitere Informationen über diesen »Absturz« zu kommen. Auch er hielt sich vollkommen bedeckt und druckste nur herum. Seine Gestik sprach allerdings Bände. Wir haben diesen Vorfall dann nicht weiter verfolgt, da die Amerikaner ihre Hände darauf hatten und jede weitere Nachforschung reine Energieverschwendung gewesen wäre.
Die nächsten Tage wurden Alex und ich immer mobiler. Wir griffen uns die verschiedensten Aufklärungsaufträge, vor allem im Raum Kabul. Mir wurde die Informationsbeschaffung fast zur Obsession. Ich war schon immer ein neugieriges Kerlchen, aber zusätzlich empfand ich das Gut Information als fast wichtiger als die Luft zum Atmen. Entsprechend verbrachte ich kaum noch Zeit in der OPZ. Auch der Schießbahn statteten wir immer öfter einen Besuch ab, um uns im Schießen fit zu halten. Für unsere Aufklärungstouren benötigten wir nun dringend einen Dolmetscher, einen sogenannten Sprachmittler, damit wir uns auch mit Einheimischen unterhalten konnten, um an Informationen zu kommen. Wir bekamen einen neuen Übersetzer zugeteilt, der sich unmittelbar nach dem »Absturz« der MIG-21 hinter dem Camp gemeldet hatte. Interessanterweise war er der Sohn des afghanischen Generals, der bei dem Unglück zu Tode kam. Alex und ich dachten sofort: Da möchte jemand etwas gutmachen. Warum sonst hatte ausgerechnet er den Job bekommen? Deutschsprachige Afghanen gab es in Kabul nämlich ganz schön viele.
Für mich war das eine ganz neue Situation, mit der ich anfangs ein Problem hatte. Ich hatte bislang kaum mit Sprachmittlern zu tun gehabt und musste mich nun an den Gedanken gewöhnen, dass ab jetzt hinter uns im Fahrzeug ein Afghane sitzt. Erst mal vertraute ich ihm nicht. Respekt gegenüber diesen Leuten ist eine Selbstverständlichkeit – aber Vertrauen muss man sich bei mir schwer verdienen. In den folgenden Tagen kamen wir natürlich auch ins persönliche Gespräch mit ihm. Jussuf erzählte uns, dass er einen kleineren Bruder hatte: Amir, der nun mit dreizehn Jahren Halbwaise geworden war und unter dem Tod seines Vaters sehr litt. Schon davor hatte das Schicksal es nicht gut mit Amir gemeint: Er war nahezu blind, weil er bei der Explosion einer Handgranate einen Splitter in sein rechtes Auge bekommen hatte. Die Ärzte hier in Kabul hatten nichts anderes tun können, als seine restliche Sehkraft zu messen. Diese lag bei knapp dreißig Prozent. Schlimm genug, in diesem Alter seinen Vater zu verlieren, aber dass Amir auch noch so gut wie blind war, hinterließ bei uns einen tiefen Eindruck. Alex und ich beschlossen, dem Jungen zu helfen, und fragten in unserem Lazarett nach, ob es dafür Möglichkeiten gab. Die Ärzte winkten bedauernd ab. Das mobile Lazarett war zwar auf dem Niveau eines gut ausgestatteten Kreiskrankenhauses in Deutschland, aber eine so komplizierte Operation am Auge sei nicht machbar. Für uns war das natürlich sehr enttäuschend. Auch unser Sprachmittler Jussuf war etwas geknickt, aber zugleich sehr dankbar, dass wir es wenigstens versucht hatten.
Doch dann ergab sich eine glückliche Fügung: Alex hatte nämlich einen Verwandten, der uns womöglich weiterhelfen konnte. Er war pensionierter Augenarzt. In einem langen Telefonat überzeugte Alex seinen Onkel, den halbblinden Amir zusammen mit einem Kollegen in Deutschland zu operieren. Natürlich unentgeltlich. Unser nächstes zu lösendes Problem hieß also: Wie bekommen wir diesen Jungen nach Deutschland?
Über unseren Stab versuchten wir, einen Platz in einer Militärmaschine, die eh nach Deutschland flog, zu bekommen. Dies wurde aber leider von allen Entscheidungsträgern kategorisch abgelehnt. Von der militärischen Führung hatten wir keinerlei Hilfe zu erwarten. Also begannen wir damit, in unserer Freizeit sämtliche Hilfsorganisationen in Kabul anzufahren, um dort eventuell Unterstützung zu bekommen. Dabei kamen wir auch in viele Krankenhäuser. Was wir mit ansehen mussten, unter welchen Bedingungen dort gearbeitet wurde, lässt mich heute noch würgen.
Der Geruch und das Leid, das wir in den Krankenhäusern sahen, spotteten jeder Beschreibung. Weibliche Opfer von Selbstanzündungen lagen in den überfüllten Zimmern und auf den Fluren. Verstümmelte Kinder, die beim Spielen auf eine Mine getreten waren; gebrechliche ältere Menschen mit leerem Blick und eingefallenen Gesichtern, denen man ihre Mangelversorgung
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