Endstation Kabul
ansehen konnte. Überall herrschte ein durchdringender Fäulnisgeruch. Alex und ich ließen uns von diesen extremen Eindrücken jedoch nicht abschrecken und zogen weiter, schilderten gefühlte hundertmal »unseren« Fall. Immer wieder wurde unser Ansinnen abgelehnt, da eh schon viel zu wenige Hilfsgelder zur Verfügung standen. Aber plötzlich ein Lichtstrahl am Ende des Tunnels: In einem Krankenhaus in der Nähe des Botschaftsviertels wurden wir endlich fündig und konnten mit einem verantwortlichen Arzt reden, der aus Deutschland kam. Was Menschen wie er in diesem ganzen Leid und Elend leisten, gleicht einer Herkulesaufgabe. Unter unvorstellbaren hygienischen Bedingungen wird dort gearbeitet. Ich war keine fünf Minuten in diesem Krankenhaus und wäre am liebsten sofort Richtung Ausgang geflüchtet. Nur weg von den wimmernden, verbrannten Menschen, die kaum mehr als Menschen erkennbar waren. Ich verstehe bis heute nicht, wie diese Helfer das tagtäglich aushalten. Meine Hochachtung und eine ganz tiefe Verbeugung vor allen Ärztinnen und Ärzten, die so eine Tätigkeit freiwillig ausführen!
Nachdem wir schon erstaunt waren, dass der Arzt sich trotz der vielen Arbeit für zwei hereinschneiende Bundeswehrsoldaten Zeit nahm, waren wir nach dem Gespräch erst recht baff. Er sicherte uns nämlich zu, das Schicksal des kleinen Amir bei seinem Vorgesetzten anzusprechen. Er konnte uns natürlich nicht versprechen, dass es klappte. Aber sein Tatendrang und seine Verbindlichkeit waren wie Balsam für uns. Nach zwei Tagen besuchten wir diesen Arzt wieder im Krankenhaus. Und er hatte eine gute Nachricht: Seine Organisation würde den Flug nach Deutschland übernehmen. Ich war von mir selber überrascht. Ich freute mich wie ein kleines Kind über diese Zusage. Schon in den nächsten Tagen würde dieser Flug nach Deutschland starten, und »unser« Junge stand bereits auf der Liste! Ich freute mich fast diebisch auf das Gesicht seines großen Bruders Jussuf, der nun zum Ernährer und Erzieher in der Familie geworden war, wenn wir ihm davon erzählen würden. Ich kann mit Worten nicht beschreiben, wie er sich über die Neuigkeiten freute. Alex und ich freuten uns mit ihm. Wir hatten unsere Hilfe aus Überzeugung und ganz ohne Hintergedanken angeboten. Als positiven Nebeneffekt hatten wir in Jussuf einen loyalen und vor allem treuen und dankbaren Verbündeten gewonnen.
Der 1. Mai rückte näher und somit auch die erste große Party, die im Camp Warehouse steigen sollte. Dieser Tag wurde als »German Day« bezeichnet, und alle beteiligten Nationen sollten mitfeiern. Jeder freute sich auf etwas Entspannung und Musik. Die Party war eine willkommene Gelegenheit, den Alltag auszublenden und trotz der Uniformen und des schwierigen Jobs in diesem Land ein bisschen Spaß zu haben. Nach meinen ersten drei Wochen in Kabul freute auch ich mich auf die Party, deren Vorbereitungen ich schon mitbekommen hatte. Organisiert wurde die Feier fast ausschließlich von einem Oberstabsfeldwebel der Fallschirmjäger. Im normalen Dienstbetrieb war er Spieß, also die »Mutter der Kompanie«, und kümmerte sich um jegliche Personalien. Jetzt konnte er sich mal so richtig austoben und übertraf sich selbst und alle Erwartungen mit dieser Party.
Als ich in der OPZ die Patrouilleneinteilung für die nächsten Tage sah, konnte ich es nicht glauben. Am »German Day« würden etliche deutsche Soldaten nicht teilnehmen können, da ausgerechnet die deutschen Fallschirmjäger fast ausnahmslos zu Nachtpatrouillen eingeteilt waren! Ich konnte es nicht fassen. Ich kannte die Jungs der ersten Stunde und wusste, dass sie seit Januar hohen Belastungen ausgesetzt waren, und nun wurde ausgerechnet diese Truppe zur Patrouille eingeteilt.
Das war mal wieder ein schönes Beispiel für die falschen Proportionen und Prioritäten beim Einsatz der deutschen ISAF-Truppen. Der Masse des Führungs- und Logistikpersonals (zum Beispiel Fernmelder, Stabsdienstsoldaten, Küchenkräfte, Instandsetzer, Fahrer usw. ) auf der einen Seite standen relativ wenige Soldaten mit militärischer Kampfausbildung gegenüber, die außerhalb des Lagers für Patrouillen und Aufklärungsarbeiten eingesetzt wurden. Diese gerade mal 150 potentiellen »Kämpfer« waren ganz klar in der Minderheit, hatten aber oftmals eine doppelte, wenn nicht sogar dreifach höhere Dienstbelastung, weil sie durch die Patrouillen »ständige Präsenz im Raum« zeigen sollten, für die Absicherung des gesamten
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