Endstation Kabul
Ruinen, etwa zwei Kilometer südlich vom Camp, hinter dem Stadtteil Shina. Dort waren jede Menge Wadis, die beim Schießen als natürliche Deckung zur Annäherung und zum Ausweichen genutzt wurden. Das Gelände war auch von wenigen ausgetretenen Pfaden durchzogen, die als einzige Stellen definitiv minenfrei waren. Rechts und links dieser Trampelpfade konnten noch jede Menge Minen schlummern. Das war insofern problematisch, als die Fahrzeuge ja irgendwo im Gelände geparkt werden mussten, weil Schießübungen auch aus den Jeeps heraus gemacht wurden. Was also tun? Ich wurde nun Augenzeuge, wie ISAF-Soldaten sehr unkonventionell testeten, ob das Gelände an dieser Stelle vermint war – und zwar mit Äpfeln! Dazu winkten die Soldaten die vielen Kinder heran, die auf dem Schießplatz leere Messinghülsen sammelten, weil diese bares Geld wert waren. Dann griffen die Soldaten hinter sich in eine Kiste mit Äpfeln, hielten sie den Kindern vor die Nase und schmissen sie ins Gelände. Dann warteten sie ab, was passierte. Wenn die Kinder losliefen, um sich die Äpfel zu holen, und es keinen Knall gab, wurde dieses Feld als geklärt und unvermint betrachtet. Sollte keines der Kinder auf das Gelände mit den Äpfeln laufen, markierten sie diesen Bereich rot in der Mine Map und sendeten ihre EOD-Kräfte zur Entschärfung.
Ich sah mir dieses Treiben, abgestumpft, wie ich bereits war, recht unbeteiligt an. Erst mit Abstand wurde mir die Tragweite und die Unglaublichkeit dieser Vorgehensweise klar, die mit nichts zu entschuldigen ist. Wie konnten die ISAF-Soldaten denn davon ausgehen, dass die Kinder genau wussten, wo Minen waren, und nicht aufgrund nagenden Hungers ungeachtet der Gefahren losliefen? Doch ich konnte den Soldaten nicht mal richtig böse sein. Sie hatten sich aus nachvollziehbaren Gründen entschieden, dass niemand aus ihrer Mitte wegen explodierender Minen zu Tode kommen sollte und dass die Apfel-Methode dafür gut geeignet war.
Man muss dazu sagen, dass Minen und die von ihnen ausgehende Gefahr die schlimmste und permanent vorhandene Bedrohung in diesem Einsatz waren. Jahrelang funktionieren diese überaus billigen und verlässlichen Helfer, warten in der Erde, um ihren »Auftrag« durchzuführen. Mittlerweile werden viele Modelle aus Plastik hergestellt, sie verrotten kaum und überdauern so die Jahre. Die Menschen mit Beinprothesen oder abgerissenen Gliedmaßen, die man in Kabul sah, gingen in die Tausende. Täglich kamen neue Opfer dieser perfiden Kriegsführung hinzu. Und so werden massenweise Prothesen (aber auch Waffen) aus Pakistan nach Afghanistan über die Grenze exportiert. Mit den Auswirkungen der nur ein paar Cent kostenden Minen ließ sich also auf Jahre und Jahrzehnte hin ein gutes Geschäft betreiben. Sobald ich heute beim Einkaufen Äpfel sehe, muss ich an diesen Tag auf der »Brick Range« denken und an die Kinder. Und Äpfel habe ich aus meinem Speiseplan gestrichen.
Alex und ich gingen in Standby und warteten, bis der nächste Schieß-Durchgang begann und wir uns den anderen Soldaten anschließen konnten. Doch plötzlich kam aus einem der Wadis eine Frau auf uns zugehumpelt. Sofort begannen mehrere Soldaten zu schreien: »Cease fire, cease fire!« (Feuer einstellen). Wir nahmen sofort die Waffen herunter und blieben gebannt stehen. Die Frau kam immer näher, fing an zu schimpfen und deutete auf ihren Arm und ihr Bein. Wir hatten keinen Sprachmittler dabei, verstanden aber sehr schnell, was sie meinte. Die Frau blutete! Die Sanitäter begannen sofort, die Schusswunde an ihrem Arm und Bein zu verarzten. Dann brachten sie die Verletzte ins Camp Warehouse, um sie weiter zu versorgen. Die Frau wurde sofort im deutschen Lazarett untersucht und behandelt. Die Ärzte diagnostizierten zwei Durchschüsse – das Projektil steckte also nicht mehr im Körper – und erstellten einen Bericht über den Vorfall. Kaum halbwegs verarztet, forderte die Frau lautstark von der ISAF Schadenersatz. Sie wollte 10000 US-Dollar Schmerzensgeld. Als ihr daraufhin mitgeteilt wurde, man hätte ja ihre Personalien und nun würde eine Untersuchung des Vorfalls eingeleitet, war sie ziemlich unzufrieden, wie mir die Kollegen aus dem Lazarett erzählten.
Alex und ich wurden zu dem Vorfall befragt. Wir konnten uns nicht vorstellen, dass die anderen Soldaten die Frau versehentlich getroffen haben könnten. Allein der Arztbericht war sehr aufschlussreich. Darin hatten die Ärzte festgehalten, dass die Schusswunden nicht mit den
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