Endstation Kabul
Charakteristika der von den Truppen verwendeten Munition übereinstimmten. Obwohl wir uns keiner Schuld bewusst waren, fühlten wir uns erleichtert. Es konnte also niemand aus dem ISAF-Kontingent gewesen sein. Wer aber sonst konnte auf die Frau gezielt haben? Eigentlich gab es nur eine Möglichkeit: Sehr wahrscheinlich hatte die Frau sich die Verletzung selbst beigebracht oder war gezielt von einem Gehilfen angeschossen worden – um abzukassieren. Damals empfand ich nur Wut über ihren Versuch, die ISAF abzuzocken. Nun, mit etwas Abstand betrachtet, kann ich nur schlucken. Dass es in Afghanistan Menschen gibt, die Schmerzen oder sogar lebenslange Verstümmelungen in Kauf zu nehmen, um an das nötige Geld zur Sicherung ihrer Existenz zu kommen, hat mich tief schockiert.
Mein Beitrag für die Loya Jirga
und geheime Dienste
Alex und ich erfuhren immer mehr Details über die Umstände der Loya Jirga. Die zur Sicherung abgestellten deutschen Teile würden im Interconti zwei Räume zur Verfügung gestellt bekommen. Unser »vorgeschobener Gefechtsstand« im dritten Stock war acht bis zehn Quadratmeter groß und musste Platz für zwei Offiziere, zwei, drei Funkgerätebediener sowie Alex und mich haben. Ganz schön eng also. Während die Offiziere und Funker in 24-Stunden-Schichten abgelöst wurden, sollten Alex und ich die nächsten zwölf Tage komplett im Interconti bleiben und rund um die Uhr für die Sicherheit sorgen. Deshalb bekamen wir beiden einen Ruheraum mit Minibalkon im ersten Stock zugeteilt. Zur Vorbereitung sollten wir die örtlichen Gegebenheiten hinsichtlich einer möglichst schnellen Eigenevakuierung aus dem Hotel erkunden.
Die Wege im Hotel mussten skizziert und eingelaufen werden, sodass im Falle eines Anschlags die Rettungswege bekannt sind. Auch wurde bereits zusätzliche Munition, Verpflegung und Wasser, Wasser und nochmals Wasser für uns ins Hotel geliefert. Selbst in der Nacht fiel die Temperatur in Kabul selten unter 25 Grad Celsius. Am Tage schwitzten wir unter unseren »Bristols« Sturzbäche heraus und mussten literweise Wasser trinken, um unseren Flüssigkeitsverlust auszugleichen. Auch weil die Küche des Interconti alles andere als vertrauenerweckend war, legte ich sehr viel Wert darauf, genug zu essen mitzunehmen. Für mich hieß das: eine zwei Wochen ausreichende Ration von Epa, also Einmannpackungen, und zwar in den Geschmacksrichtungen Linsensuppe und Cevapcici. Alles andere fand ich völlig ungenießbar. Alex hatte eine sehr eigene Methode, seine Epas aufzupeppen: Seine Frau hatte ihm jede Menge Ketchup geschickt, das er über wirklich jede Mahlzeit kippte. Wir wollten auf alle Fälle vermeiden, dass einer von uns beiden mit »Montezumas Rache« darniederliegt, während draußen die Loya Jirga läuft. Bei unserer geringen Personaldecke wäre das die absolute Katastrophe gewesen!
Ärgerlicherweise wurden uns bei diesen logistischen Vorbereitungen von einigen Soldaten unnötig Steine in den Weg gelegt. Die Bürokratie war in dieser Phase des Einsatzes bereits auf bestem deutschem Niveau angelangt. Für jede popelige Batterie, für jede Epa-Ration, jede Rolle Klebeband oder Klopapier und natürlich Munition musste von uns ein Anforderungsformular ausgefüllt werden. Ich kam mir wie zurückversetzt in meinen Heimatstandort vor. Gerade die Oberbürokraten an den Materialausgabestellen hatten von Tuten und Blasen keine Ahnung, weil sie meist noch nie außerhalb des Camps gewesen waren und überhaupt nicht wussten, wie es da aussah und was man da alles brauchte. Das ewige Hickhack und die vielen Formulare ließen mich wieder einmal fast an der Bundeswehr verzweifeln. Alex kannte die Probleme schon. Er blieb ganz gelassen und beruhigte mich – mal wieder.
Im Nachhinein kann ich sagen, dass wir uns bei der Absicherung der Loya Jirga ein bisschen mehr Gelassenheit hätten erlauben können. Denn der Ablauf der wichtigen Versammlung war gut geplant, teilweise standen sogar die Ergebnisse schon im Vorfeld fest. Die Amerikaner hatten ganze Arbeit geleistet, um ihren Wunschkandidaten Hamid Karzai durchzusetzen. Damals allerdings war mir das nicht so bewusst. Nicht nur ich, die ganze Stadt und auch die ISAF-Truppen standen ja unter großer Anspannung. Mit unserem damaligen Wissen konnten wir nicht abschätzen, wie die Loya Jirga ausgehen und in welche Richtung sich unser Einsatz entwickeln würde. Natürlich wurden wir von der Führung alles andere als umfassend informiert. Es galt das Prinzip:
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