Endstation Kabul
und brenzligen Situationen bei unseren Aufklärungstouren beschäftigte mich eine Frage immer mehr: Wer holt uns eigentlich raus, wenn Alex und ich oder andere Truppenteile in eine Notsituation geraten oder Verletzte und Verwundete haben? Im Fachjargon der sogenannte »Backup«, also eine Art Absicherung durch im Hintergrund bereitstehende Kräfte. Alex und mir versicherte man ein ums andere Mal: »Ihr müsst nur funken, die deutschen Hubschrauber holen euch schon raus.« Das kann ich nur als groben Unfug interpretieren. Ich kann das insofern beurteilen, da ich während meiner Ausbildung zum Berufshubschrauberpiloten endlos viele Landungsberechnungen machen musste. Die gepanzerten Hubschrauber der Bundeswehr erreichten in Afghanistan sehr schnell ihre Leistungsgrenzen, vor allem deswegen, weil Kabul schon auf einer Höhe von 1800 Metern über Normalnull liegt. Es war keinesfalls möglich, in den dort eingesetzten Maschinen noch eine größere Gruppe von Soldaten mitzunehmen.
Die ungeklärte Minenlage am Boden machte die Evakuierung aus der Luft nicht leichter. Kein Pilot mit allen fünf Sinnen und gesundem Menschenverstand landet in einem Gelände mit ungeklärter Minenlage. Schon aus einiger Höhe können die Maschinen nämlich durch den sogenannten »Downwash« ihrer Rotoren Minen am Boden auslösen. Die Leistung der eingesetzten Piloten steht hier nicht zur Debatte. Die Piloten waren großartig, und wir nutzten diesen Umstand zur Aufklärung aus der Luft weidlich. Die Bedrohung durch die amerikanischen »Stinger« und die britischen »Blowpipes« war natürlich extrem unangenehm. Diese handlichen Raketen werden von der Schulter aus in die Luft abgefeuert. Sie waren massenweise durch den Krieg gegen die Russen ins Land gekommen und machten uns schwer zu schaffen. Uns blieb nichts anderes übrig, als auf die installierten Abwehrmaßnahmen dieser Hubschrauber zu vertrauen.
Bei einem dieser Aufklärungsflüge bekamen Alex und ich den Ernst der Lage zu spüren. Hinter ihm, an der Außenseite des Hubschraubers, befanden sich die Behälter für die Täuschkörper, die »Flares«. Die zweite Maschine flog schräg rechts hinter uns in Formation, zur Sicherung. Auf der offenen Heckrampe war der Luftraumspäher positioniert. Im Tiefstflug ging es durch an Kabul angrenzende Täler. Der gesamte Flug wurde von uns per Videokamera dokumentiert. Plötzlich gab es einen gigantischen Knall. Im ersten Moment dachte ich an Maschinengewehrfeuer, bis ich durch die offene Heckrampe die ausgestoßenen Täuschkörper erkannte: Magnesiumfackeln, die brennend zu Boden sanken. Ich verkrampfte und verstärkte meinen Griff um den Sitzholm. Wir hatte keine Ahnung, ob wir nur durch ein Radar angepeilt worden waren oder ob bereits ein Geschoss im Anflug war. Die beiden Soldaten der Hubschrauberbesatzung schrien »Anschnallen!«.
Wir saßen hilflos da, während der Pilot in einen extremen Tiefflug überging und die Geschwindigkeit erhöhte. Obwohl wir eigentlich alle das Fliegen mit Hubschraubern gewohnt waren, veränderte sich bei jedem rapide die Gesichtsfarbe. Die Nervosität, die abrupten Flugmanöver und die heftige Tempoerhöhung – das war ein bisschen viel auf einmal. Noch dazu war es sehr heiß und wir hatten alle unsere Bristol-Westen an, was die Sache nicht leichter machte. Ich spähte konzentriert aus dem Fenster, erkannte aber keine anfliegende Rakete. Vermutlich hatte uns nur irgendein Spaßvogel aufs Korn genommen. Nach der Landung klopften wir uns erst mal erleichtert auf die Schulter, und der Pilot gab uns die genauen Koordinaten für unsere Meldung an die OPZ. Ich war sehr froh, nach diesem Höllenritt endlich wieder festen Boden unter den Füßen zu haben. Es war zwar nichts passiert, aber dieser Vorfall bestärkte uns mal wieder in der Einschätzung: Hier ist es verdammt gefährlich.
Zurück im Camp, erhielten wir unseren konkreten Auftrag für die immer näher rückende Loya Jirga: Alex und ich sollten den »vorgeschobenen Gefechtsstand«, eine Art kleine Operationszentrale direkt im Hotel Interconti, überwachen und sichern. Die beiden dort kommandierenden Offiziere hatten den Auftrag, die Truppen direkt vor Ort zeitnah »im Gefecht« zu führen und gleichzeitig die Funkverbindung zur OPZ im Camp aufrechtzuerhalten, um Lageinfos zu koordinieren. Die Loya Jirga selbst fand nur wenige Hundert Meter entfernt auf dem Campus der Polytechnischen Universität Kabuls statt. In einer Mulde hatte die GTZ, die international
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