Endstation Kabul
grünen, leichteren Tropenuniformen ins Land. Auch luftdurchlässigere Stiefel wurden endlich geliefert, allerdings waren sie leider nur in wenigen Größen verfügbar. Zum Glück hatte ich ein Paar der neuen Stiefel ergattert, eine Wohltat für meine Füße. Allerdings hatte ich jetzt noch mit den Nachwirkungen meiner zum Teil offenen Füße zu kämpfen.
Als Nächstes versuchten wir, uns in unserem Ruheraum häuslich einzurichten. Dazu entfernten wir alle Möbelreste sowie den groben Dreck der letzten Jahre. Ich bin ein sehr ordentlicher Typ und versuchte krampfhaft, diese Bruchbude halbwegs bewohnbar zu machen. Als wir den gröbsten Unrat weggeschafft hatten, stellten wir unsere drei Feldbetten hin und bauten unsere Rucksäcke, Wasser, Proviant- darunter eine Ketchupflaschen-Sammlung von Alex – an der Wand auf. Dann kümmerten wir uns um unsere eigenen Evakuierungsmöglichkeiten. Dazu legten wir Sammelpunkte fest, auf die wir uns im Falle einer Krise zurückziehen könnten. Wir entschieden uns für eine markante Moschee mit einer blauen Kuppel, die etwa 600 Meter nördlich lag und die übrigens auf dem Buchcover zu sehen ist. Ebenfalls erkundeten wir mehrere Wege, um diesen Punkt schnellstmöglich, auch bei Nacht, erreichen zu können. Da es unter Umständen schnell gehen musste, die Bedrohung sogar aus der Hotel-Lobby kommen konnte und unser Arbeitsraum ja im dritten Stock war, richtete ich auf der Rückseite des Gebäudes einige Abseilstellen ein.
Am Abend trafen wir die ersten »Kollegen« vom NDS im Hotel. Sie beäugten neidisch unsere Ausrüstung und vor allem unsere Waffen. In diesem Land warst du nur etwas, wenn du ein Gewehr dabeihattest und noch besser mit vielen und eindrucksvollen Waffen behängt warst. Bei diesem von Kriegen gebeutelten Volk zählte das viel, es gehörte seit dem Kampf gegen die Invasion der Russen zum Selbstverständnis – was nicht alle Westler begriffen. Einige wollten so unscheinbar wie möglich wirken und vor allem nicht gefährlich. Ganz schön naiv, ist meine Einschätzung dazu. Deeskalation mag ja schön und gut und in vielen Fällen auch die richtige Strategie sein. So ein schlichtendes Verhalten wird von den Afghanen, wenn es hart auf hart geht, aber als Schwäche ausgelegt. Defensives Auftreten entsprach in keinster Weise den örtlichen Gegebenheiten und war meinen Erfahrungen nach eher töricht, wenn nicht gefährlich. Die Waffen haben aber auch noch eine andere wichtige Funktion: Neben Zigaretten sind sie der Türöffner Nummer zwei, um mit afghanischen Männern ins Gespräch zu kommen. Besonders bei den Afghanen aus den Dörfern um Kabul. Sie erkennen nur eine Gesetzgebung an: ihren Ehrenkodex, der »Paschtunwall« heißt und auf drei Säulen ruht: Gastlichkeit, Blutrache, Pflicht zur Asylgewährung. Staatliche Gesetze spielten in ihrem Leben keine Rolle. Schon kurz hinter der Stadtgrenze war dieser archaische Ehrenkodex gang und gäbe.
Am nächsten Mittag rief uns ein Funkspruch ins Camp, um zwei Sprachmittler für die deutschen Teile abzuholen. Auf dem Weg sahen wir, dass sich das ganze Stadtbild geändert hatte. Es waren noch viel mehr Menschen auf den Straßen als sonst, und an allen wichtigen Kreuzungen waren Checkpoints der Polizei errichtet worden. Als wir die beiden Dolmetscher in Empfang nahmen, erlebten wir eine freudige Überraschung: Unser alter Bekannter Jussuf war dabei und uns zugeteilt worden. Als er uns sah, mussten wir ihn davon abhalten, vor uns auf die Knie zu gehen. Er bedankte sich überschwänglich wegen der Hilfsaktion für seinen kleinen Bruder. Die Augen-Operation in Deutschland war erfolgreich verlaufen, und man konnte schon jetzt sagen, dass Amir auf dem verletzten Auge eine Sehkraft von circa siebzig Prozent erreichen würde. Nicht schlecht, wenn man bedenkt, dass er vorher mit nur dreißig Prozent Sehkraft beinahe blind gewesen war. Die Veränderungen im Leben des kleinen Amir machten sich schon bemerkbar. Jussuf erzählte, wie ausgelassen sein Bruder nun mit den Gleichaltrigen spielte. Wir sahen, wie glücklich das Jussuf machte. Amir war wegen seiner geringen Sehkraft sehr scheu und zurückhaltend gewesen. Nach dem Tod seines Vaters hatte sich dieses Verhalten um ein Vielfaches verstärkt. Mit der neugewonnenen Sehkraft kehrte auch zumindest ein Teil seiner alten Lebensfreude zurück. Wir hörten dies natürlich sehr gerne und freuten uns mit ihm über die Fortschritte, die sein Bruder machte.
Die Pressemeute schwappte ins Interconti:
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