Endstation Mosel
fügen.
Auf dem Gang sah er niemanden. Gott sei Dank. Die Nonnen waren weg.
»Geht’s widder?«
Walde zuckte zusammen: »Bei Oleg jeht’s immer.«
»Ich dacht’ schon«, der Mann reichte ihm nachdenklich den Stock. »Weil die Nonnen haben ziemlich blöd geguckt, als die vorhin da raus kamen.« Er deutete auf die Tür hinter Walde. »Ich dacht’ schon, die rufen den Notdienst.«
»Sollen wirr noch eine rauchen?«, schlug Walde vor.
»En Schnaps war’ mir jetzt lieber.«
»Schnaps immer jut für Oleg!«
»Ich bin der Willi«, sagte Willi und schlug den Weg zurück in Richtung Ausgang ein.
Für sein Alter, Walde schätzte ihn auf weit über siebzig, bewegte sich der Mann erstaunlich schnell. Walde humpelte hinter ihm her.
Er geriet ins Grübeln. Im Moment hatte er keinerlei Rückhalt durch seinen Job. Kein Polizeiapparat stand hinter ihm. Sein Eigenwertgefühl bestand sicherlich auch aus seiner Bildung, seiner Wohnung, den Büchern, Rechnern, Musikinstrumenten, seinem Bankkonto, dem Wagen, Fahrrad, Freunden und seiner Freundin. Was war er im Moment? Eine lächerliche Figur im Bademantel. Etwas zu groß, hungrig, ohne Geld auf einem Territorium, wo er nicht hingehörte. Bisher hatte er geglaubt, in sich ruhen zu können, nur sich selbst zu brauchen. Daran zweifelte er im Moment.
Wenn man den Papst in diesen Bademantel gesteckt, ihm diese Mütze und Brille aufgesetzt hätte, wo wäre dann dessen Autorität geblieben?
Wo war Waldes Stärke, sein Selbstbewusstsein, die Sicherheit seines Auftretens, die Bestimmtheit, mit der er seine Wünsche durchsetzte, seine Ziele erreichte, Widerspruch ausräumte?
Während seiner Ausbildung in der Ersatzdienstschule hatte er einen Tag im Rollstuhl verbracht und sich durch die Stadt schieben lassen. Walde war es bis dahin gewohnt gewesen, mit seinen fast zwei Metern gewissermaßen über den Dingen zu stehen und den Überblick zu haben. Nun war er zwei Etagen tiefer gelandet und musste sich mit dem begnügen, was ihm die anderen an Sicht gewährten. An diesem Tag war ihm bewusst geworden, auf welch schmalem Fundament seine Selbstsicherheit gebaut war.
»Watt iss, haste keinen Durst?«, sein Vordermann riss ihn aus seinen Gedanken.
»Warum?«, fragte Walde.
»Weil du nit voran machst.« Willi drehte kurz den Kopf zu ihm um.
»Oleg kein D-Zug.«
»Datt seh’ ich!«, sagte Willi. »Eben warst du schneller, als du aufs Klo musstest, dat muss ich aber sagen.«
Sie hatten das Gebäude verlassen und folgten dem Weg in Richtung Parkhaus. Walde schaute auf seine Uhr. Erst in eineinhalb Stunden war er mit Harry verabredet. Kurz vor einem Pavillon mit einem noch geschlossenen Blumenladen machte Willi einen abrupten Richtungswechsel um neunzig Grad. Das offene Fenster mit den Zeitungen und dem Langnesefähnchen war Walde bisher nicht aufgefallen. Er blieb stehen und sah, wie geschäftige Hände einen Geldschein ins Innere zogen und kurz darauf Wechselgeld aufs lackierte Holz schoben.
Willi drückte ihm ein viereckiges keines Fläschchen in die Hand. Kaum hatte Walde es aufgeschraubt, prostete ihm sein Gegenüber zu.
Mehr als die Hälfte des Schnapses bekam Walde nicht hinunter. Der alte Mann hatte bereits ausgetrunken und grinste ihn an: »Du bist wirklich kein Russe.«
Hatte er sein Spiel durchschaut?
»Jetzt guck nit so!« Willi bekam ein weiteres Fläschchen aus dem Fenster gereicht. »Ich war bis fünfzig in Odessa.«
»Was haste da jemarrt.«
»Geschafft hab’ ich, die ganze Scheiß’ wieder aufgebaut, sechs Jahre lang in einer Werft, bis der Ivan mich endlich nach Haus gelassen hat.«
»Und?«, fragte Walde.
»Nix und, die Russen waren korrekt, ich kann mich nit beklagen. Ich war ja selbst Kommunist, ich hab’ denen vorgelesen, was unser Karl Marx geschrieben hat über Kriegsgefangenschaft und so. Wer Kriegsgefangene länger als sechs Monate einsperrt, verstößt gegen das Völkerrecht. Da hann sie mir den Marx wieder abgeholt.« Willi trank an seiner Flasche. »Ich hann gleich en bisschen russisch gelernt, dat hat denen imponiert.«
»Und wachum bist du hirr in Krankenhaus?«, lenkte Walde ab, der befürchtete, dass er womöglich auf Russisch angesprochen wurde.
»Die hatten auch genug Öl«, Willi deutete in Richtung des Parks. »Ohne Kommunismus hätten die es genauso machen können, wie die da drüben.«
»Wer da drüben?«, fragte Walde.
»Die Scheichs, die kommen mit dem Hubschrauber hier angeflogen, haben ihren ganzen Harem dabei und lassen sich
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