Endstation Nippes
begann, ihre Hand abzulecken.
Grete Lehner schloss die Augen und seufzte. Dann murmelte sie: »Gut, behalte ihn.«
»Ey, Sunny, hörste?« Chantal zog den Rotz hoch, hob sich Sunny ans Gesicht und drückte ihm einen Kuss auf den Kopf.
»Schnäuz dich!«, sagte Grete Lehner.
Ich stand auf, wollte mich verabschieden, aber Grete Lehner hatte noch weitere Fragen auf Lager: Wo Chantal zur Schule ginge? – Aha, auf die Theodor-Heuss-Realschule in Sülz. Ob die nicht ein bisschen weit weg von Nippes sei? Ob Chantals Opa das denn nicht bedacht hätte?
Herr Schulz hätte das sehr wohl bedacht, wandte ich ein, wir hätten gerade vorhin darüber gesprochen. Was stimmte.
»Wie soll die Chantal denn jetzt jeden Tag nach Sülz fahren?«, hatte mich Hotte gefragt. »Kann die nicht hier in Nippes auf die Schule gehen?« Ich hatte mir vorgenommen, im Schulamt anzurufen, da kannte ich eine Frau, die mir schon mehrmals bei Recherchen geholfen hatte. Aber dann war mir alles über den Kopf gewachsen.
»Das haben Sie sich aber ein bisschen spät überlegt.« In ihrem Blick lag eine Selbstgerechtigkeit, die mich beinahe wieder auf die Palme brachte. Und dann setzte sie noch einen drauf: »Die Schule beginnt in Kürze wieder. Sie hätten Chantal längst ummelden müssen.«
Ich atmete einmal ein und einmal aus und sandte ein Stoßgebet zu Tara: »Hilf mir, mich wie ein Bodhisattva zu benehmen!« Dann sagte ich zwar kühl, aber nicht aggressiv: »Die Kinder sind erst vor zwei, drei Wochen zu ihrem Großvater gezogen. Sie waren auf der Flucht vor einer Pflegemutter, die Marco an Männer verkauft hat. Und vor diesen Männern. In der Zeit haben wir uns zuallererst um Marco gekümmert. Dann ist er weggelaufen, und wir haben ihn verzweifelt gesucht.« Das hab ich dir alles gestern schon erzählt, dachte ich wütend. Cool down , Leichter, ermahnte ich mich erneut. Und fügte hinzu: »Es gibt Prioritäten, Frau Lehner. Emotionale Prioritäten.«
Sie musterte mich schweigend. Ich schwieg gleichfalls und betrachtete ihr Wohnzimmer. Gediegenes Holz, verglaste Bücherregale, die Polstermöbel solide, aber abgenutzt, die Leselampe aus den fünfziger Jahren, Fotos von Berglandschaften an den Wänden, ein bisschen Nippes auf der Konsole, Familienfotos und eine goldgerahmte Aufnahme von Frau Lehner mit Willy Brandt.
»Und das Jugendamt hat Herrn Schulz das Sorgerecht übertragen?«, fragte sie schließlich misstrauisch.
»Ja. Und mit gutem Grund.« Das »Ja« war gelogen, denn Hotte und Chantal hatten den Termin bei dem zuständigen Sachbearbeiter erst am nächsten Tag. Aber Frau Lanzing hatte mir zugesichert, dass es keine Probleme geben würde. Und ich wollte um keinen Preis, dass Grete Lehner auf die Idee kam, sie könnte sich da noch einmischen.
Wir trugen ein kleines Blicke-Duell aus. Chantal kippelte auf dem Stuhl hin und her, sie wollte hier weg. Schließlich verkündete Grete Lehner, sie würde mit der Leitung der Peter-Ustinov-Schule reden. Vielleicht würden die Chantal noch aufnehmen. Obwohl es für eine Anmeldung längst zu spät war. Erneuter strafender Blick in meine Richtung.
»Meinste, die macht das echt?«, fragte Chantal, als wir endlich draußen waren.
»Ich glaub schon«, erwiderte ich.
»Und machen die das dann? Dass die mich nehmen?«
»Keine Ahnung«, antwortete ich ehrlich. »Ich trau dem alten Feldwebel aber einiges zu.«
Chantal drückte Sunny an sich. »Das wär ja voll cool. Dann muss ich nicht so weit fahren.«
»Jetzt lass den Hund mal runter. Der muss laufen lernen.«
Chantal setzte Sunny vorsichtig auf den Bürgersteig. »Du gehörst jetzt mir, Sunny«, sagte sie ernst, »und keiner kann dich mir wegnehmen. Hörste?«
Sunny machte ein paar tapsige Schritte, dann sah er zu Chantal hoch und jaulte.
»Du musst hart bleiben«, ermahnte ich sie lachend, »das ist ein Labrador, kein Schoßhund.«
»Haste gehört?«, fragte Chantal und zog an der Leine. Sunny folgte ihr widerstrebend bis zum nächsten Baum. Dann blieb er abrupt stehen und gab einen beachtlichen Strahl von sich. Wir sahen höflichkeitshalber weg.
»Guckma«, rief Chantal plötzlich und zog ein Handy aus ihrer Baggy-Hose. »Hat mir der Opa geschenkt.«
Ich speicherte mir ihre Nummer ein. »Meine Nummer hast du?«
»Ja klar.«
Als wir in die Merheimer Straße einbogen, peilte ich die Lage. Ich wollte Chantal keine Angst machen, sagte dann aber doch: »Pass ein bisschen auf, wer hier ums Haus schleicht. Ich möchte nicht, dass dir was
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