Endstation Oxford
kennengelernt.«
»Ist ja toll! Hast du eine Ahnung, wo Muriel ist?«, wollte Austin wissen.
»Sie sollte hier irgendwo sein«, entgegnete Adela unbestimmt. »Ich bin ziemlich sicher, dass wir uns an der Eingangstür treffen wollten.«
»Ich hole nur schnell das Auto. Bestimmt taucht Muriel gleich auf. Und wenn nicht, dann machst du es dir schon einmal im Wagen bequem, während wir warten. Deine Füße brauchen sicher ein bisschen Ruhe.« Sie sieht erschöpft aus, dachte er. Der lange Tag hatte Spuren hinterlassen. Vielleicht würde er auf dem Heimweg irgendwo an einem altmodischen Café anhalten und die beiden netten alten Damen zu einer Tasse Tee einladen.
»Lieb von dir«, sagte Adela. Und im Gehen hörte Austin, wie sie vor sich hinmurmelte: »So ein fürsorglicher Junge.«
Jon stand in der Küche und bereitete ein leichtes Abendessen vor. Kate gönnte sich ein schönes Glas Weißwein als Belohnung dafür, dass sie sich auf der Feier mit dem Trinken sehr zurückgehalten hatte, als das Telefon klingelte.
»Deine Mutter«, sagte Jon nach einem Blick auf das Display und reichte Kate den Hörer.
»Hallo Roz!«
»Und? Wie war Estelles Hochzeit?«
Kate trank einen Schluck Wein und kuschelte sich auf das Sofa. »Schön. Ein goldener Oktobertag wie aus dem Bilderbuch, hervorragendes Essen und köstlicher Champagner.«
»Und niemand hat sich danebenbenommen?«
»Ein Gast war ziemlich betrunken und hat den Bräutigam beschimpft. Er wurde dann rausgeworfen.«
»Mit so etwas muss man immer rechnen.«
»Alles war hervorragend organisiert. Und ich fand es ganz angenehm zu sehen, wie sich Estelles starker Charakter endlich einmal auf jemand anderes konzentrierte.«
»Wie war das Kleid? Ein Designermodell?«
»Es sah ein bisschen nach Ian Stuart aus. Pastellfarben mit asymmetrischen Volants und einer eng sitzenden, diagonalen Schärpe über Taille und Hüfte …«
In diesem Augenblick streckte Jon den Kopf um die Ecke. »In zwei Minuten …« Als er jedoch mitbekam, worum es im Gespräch zwischen Mutter und Tochter ging, zog er sich wieder in die Küche zurück.
»War das Jon?«, fragte Roz.
»Ja, aber Klamotten interessieren ihn nicht«, erwiderte Kate. »Wo waren wir stehen geblieben? Ach ja. Ein Kleid im Flamenco-Stil, mit einer glitzernden Organzablüte über einem Ohr, einer zweiten an der Taille und einem mit Perlen bestickten Oberteil. Sie trug keinen Schleier, aber eine Schleppe, die beim Gehen raschelte wie Papier.«
»Ausgesprochen passend für eine Literaturagentin. Das hört sich ja an, als hättest du einen schönen Tag gehabt.«
»Ja, den hatte ich.« Kate unterbrach sich. »Aber was ist mit dir? Alles in Ordnung?«
»Ja klar. Wieso? Klinge ich anders?«
»Du hörst dich ein wenig müde an.«
»Ich muss zugeben, dass ich mich nach dem Mittagessen ein Viertelstündchen hingelegt habe. Aber das hat nichts zu sagen. Morgen bin ich wieder ganz die Alte.«
»Sicher. Trotzdem solltest du nicht übertreiben.«
»Was genau soll ich nicht übertreiben? Du weißt doch, dass ich in allen Dingen übermäßig bin.«
»Klar.« Kate verzichtete darauf, ihrer Mutter zu raten, heute einmal früh zu Bett zu gehen.
»In Ordnung. Gute Nacht, Kate.« Und als könne Roz die Gedanken ihrer Tochter lesen, fügte sie hinzu: »Dein Tag war sicher ziemlich anstrengend. Ich an deiner Stelle würde heute einmal früh zu Bett gehen.«
»Mal sehen. Soll ich morgen Nachmittag bei dir vorbeikommen?«
»Meinst du, um nach dem Rechten zu sehen?«
»Quatsch! Gute Nacht, Roz.«
Zum ersten Mal spürte Kate, dass ihre Mutter langsam alt wurde. Nun ja, vielleicht nicht alt , aber doch zumindest älter. Roz musste inzwischen deutlich über siebzig sein. Sie hielt sich über ihr genaues Alter gern bedeckt, sogar vor der eigenen Tochter, und Kate wäre es nie in den Sinn gekommen, sie unaufgefordert danach zu fragen. Wenn sie Roz jedoch nicht einmal mehr besuchen durfte, ohne gleich der Kontrolle verdächtigt zu werden, würde sie sich wenigstens bemühen, sie öfter anzurufen.
6
Zwei Wochen später kehrte Estelle aus den Flitterwochen zurück. Sie freute sich auf ihre Arbeit. Männliche Gesellschaft war ja ganz nett, auch die des eigenen Ehemannes. Aber gegen die Erregung, die sie verspürte, wenn sie ein geniales Manuskript entdeckte und es bei einer Auktion verkaufte, kam sie nicht an.
Außerdem waren im Zusammenleben mit einem anderen Menschen immer wieder kleine Reibereien vorprogrammiert. Sie hatte sich dabei ertappt,
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