Endstation Oxford
Umgebung offenbar eingeschüchtert. Zwar trugen sie offenbar ihre beste Kleidung, aber die Details stimmten nicht. Der Hut der Frau passte nicht zu ihrem kleinen, blassen Gesicht und dem dünnen Haar, und der Mann hätte dringend ein Paar neue Schuhe gebraucht.
Die Gäste gerieten in Bewegung. Zwischen Haustür und Limousine bildete sich ein Gasse und gestattete Austin einen Blick auf das jungvermählte Paar. Die Frau hat wirklich Klasse, dachte er bewundernd, als Estelle erschien. Er liebte es, wenn Frauen schöne Schuhe trugen. Das Paar, das Estelle trug, hatte so hohe Absätze, dass sie ihren Ehemann um einige Zentimeter überragte. So viel Selbstvertrauen war nicht nur dem Familienerbe zu verdanken – diese Frau hatte es im Leben aus eigener Kraft zu etwas gebracht. Was mochte sie wohl beruflich tun? Austin wusste, dass er nicht lange auf die Antwort würde warten müssen. Adela und ihre Freundin Muriel würden sicher während der gesamten Rückfahrt nach Oxford über das frischgebackene Ehepaar schwatzen und ihm so viele Einzelheiten verraten, wie er gar nicht hatte wissen wollen. Muriel würde sicher auch Näheres über den Betrunkenen wissen, den man unter Austins Augen von der Feier entfernt hatte. Muriel hatte eine scharfe Zunge und genoss nichts mehr als bösartigen Klatsch.
So heiter das Zimmer auch am Morgen wirken mag, wenn sich die schrägen Strahlen der Herbstsonne durch das Fenster tasten, schwebende Staubkörnchen zum Leuchten bringen und die Wände in geschmolzenes Gold verwandeln – am Abend wird es kühl, und die Geister sammeln sich in den Ecken, als materialisierten sie sich aus der feuchten Luft.
Die Vorhänge wurden seit jenem Tag natürlich schon mehrfach erneuert. Doch auch wenn jeweils das Muster wechselt, nehmen sie um fünf Uhr abends die frühere, dunkle Farbe getrockneten Blutes an, und ihre starren Falten verlieren den chemischen Geruch, der neuen Stoffen zu eigen ist. Ich atme den stickigen Staub vieler Jahre ein. Er legt sich wie Puder auf meine Haut, wenn ich den Vorhangstoff um meine Schultern wickele und dem warnenden Ticken der Uhr lausche, die gleich fünf schlagen wird.
Die alte Standuhr mit dem Gehäuse aus Eichenholz wurde längst auf einem Wohltätigkeitsbasar der Kirchengemeinde verkauft. Die neue batteriegetriebene Uhr, die inzwischen auf dem Kaminsims steht, ist so still wie … Es genügt, wenn ich sage, dass die Uhr still ist. Die Geräusche, die ich höre, kommen aus der gleichen Ecke wie meine Geister.
Ist Ihnen je aufgefallen, dass die Stunden eines Tages von unterschiedlicher Dauer sind? Früh am Morgen sind sie lang und vergehen langsam. Fünf, sechs, sieben Uhr – die Zeit dehnt sich und nimmt es mit jeder anstehenden Aufgabe auf. Am späten Nachmittag hingegen treten sie einander auf die Fersen, weil sie kaum schnell genug davonlaufen können. Ist es erst einmal fünf Uhr, kann man jeden Plan, innerhalb ihrer engen Grenzen noch etwas Vernünftiges zu tun, getrost vergessen. Man hastet voran, beeilt sich, das Abendessen auf den Tisch zu bringen, Wäsche zu sortieren, ein Zimmer aufzuräumen, zu essen und die Reste wegzuräumen. Das Telefon klingelt, und man redet vergeblich. Später nimmt man ein Buch zur Hand und schläft ein, ehe man das Seitenende erreicht hat.
Fünf Uhr. Merkwürdig, wie sich alles immer genau auf diese Zeit am Nachmittag konzentriert. Die Schatten werden länger, die Luft kühler. Ich stehe mit um die Schultern geschlungenem Vorhang am Fenster. Der Stoff ist wie ein freundlicher Arm. Ich warte darauf, dass das Drama beginnt.
5
»Ich glaube, wir kennen uns noch nicht. Ich bin Peter Hume.«
Estelle hatte sich nach oben zurückgezogen, um ihr spektakuläres Brautkleid gegen ein elegantes Nachmittagskleid zu tauschen, und Muriel war ins Bad gegangen. Plötzlich stand Adela einem netten Mann gegenüber, den sie nicht einordnen konnte.
»Sind Sie ein Freund von Estelle?«, erkundigte sie sich.
»In gewisser Weise schon. Estelle und ich haben gerade geheiratet.«
»Aber natürlich! Wie dumm von mir! Ich hätte wirklich wissen müssen, wer Sie sind.«
Sie betrachtete ihn. Der Tag war lang, anstrengend und voller neuer Gesichter gewesen. Sie konnte sich nicht mehr konzentrieren und spürte, wie in ihrem Kopf alles durcheinanderging. Der nette Mann kam ihr irgendwie bekannt vor, aber auch er hatte sich umgezogen. In einem normalen Anzug ohne Rose im Knopfloch konnte sie ihn kaum von anderen Gästen um die vierzig unterscheiden. Er
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