Endstation Rußland
einen Skandal.
»Komm weg hier!«
»O nein! Ich will denen noch mein KLEINES LYRISCHES GEDICHT vortragen!«
Jasja ballte die Fäuste und durchbohrte mit ihrem Blick den völlig unschuldigen Dichter Andrej Rodionow, der nach wie vor hochmütig auf dem Asphalt schlief. Um den ausgestreckten Körper des Dichters herum sammelte sich trübes Wasser. Über sein Gesicht hatte jemand fürsorglich die Zeitung Limonka gebreitet, auf die nun heftig der Regen prasselte.
Jasja sollte als letzte auftreten. Nikita machte sich auf das Schlimmste gefaßt.
»Ihr meint, es reicht, in stümperhaftem Sprachdurchfall das Wort SCHWANZ einzufügen, und schon ist der Text ein Meisterwerk der Avantgarde-Kunst? Was glotzt ihr so? Das sind keine Gedichte. Ich rede mit euch, ihr radikalen PRÄZEDENZIEN«, begann Jasja und nahm einen tiefen Zug von ihrer Zigarette.
»Hier wird nicht geraucht«, flüsterte der verdiente literarische Schwule erschrocken, aber vergeblich.
Jasja kam in Fahrt. Im Saal herrschte Grabesstille.
»Also, WEG MIT DEN PRÄZEDENZIEN! Über die brauchen wir gar nicht erst zu reden! Jetzt ein paar Worte an diejenigen, die wirklich versuchen, Gedichte zu schreiben. Die Welt hat sich schon tausendmal verändert! Doch ihr schlagt noch immer die Leier und wollt singen wie Homer! Eure Sprache paßt in die Welt von vor zweihundert Jahren! Aberwir haben inzwischen das 21. Jahrhundert! Jede Zeit braucht ihre eigenen Worte! Man muß mit der Welt in der Sprache sprechen, die sie versteht! Unsere wunderbare neue Welt versteht nur die Sprache der Gewalt und Brutalität! Die Sprache unmittelbarer zerstörerischer Taten! TATEN, nicht Worte! Hört ihr, meine zeitgenössischen Literaten?! Worte sind nicht mehr nötig! Das genialste Werk der NEUEN KUNST hat die Welt am 11. September 2001 gesehen! Wer hat den Mut, das zu wiederholen?!«
Jasja holte Luft. Das Volk schwieg.
»Na, schon gut, was seid ihr so erschrocken? Zum Schluß will ich euch doch noch ein kleines lyrisches Gedicht vortragen.«
Das Publikum atmete erleichtert auf. Der Schriftsteller Rachmaninow leerte das Wodkaglas in einem Zug.
»Ein Bekannter von mir, der Punk Schädel, mixt gern Sprengstoff zusammen. Gar nicht mal schlecht. Vor kurzem hat er mir eine kleine Bombe geschenkt. Sie liegt dort in meiner gelben Tasche.«
Der bejahrte literarische Schwule wich mit dem Sprung eines jungen Panthers von Jasjas Tasche. Jasja sah auf die Uhr.
»Wer keine Bekanntschaft mit der NEUEN KUNST machen möchte, hat eine halbe Minute, um den Saal zu verlassen. Die Zeit läuft …«
Da geschah etwas Unvorhergesehenes.
»Ich wußte ja, daß sie blöd sind, aber so blöd …«, rechtfertigte sich die Auslöserin des Skandals hinterher.
Im Saal brach Panik aus. Alle sprangen auf. Am Ausgang entstand sofort Gedränge. Die ängstliche Dichterin griff sich ans Herz und sank langsam vom Stuhl. Der Exmann dervirtuellen Schura rannte vor der Bühne auf und ab und appellierte an Jasja:
»Ich flehe dich an! Ich bin noch zu jung! Ich hatte noch keine Zeit, berühmt zu werden! Halt ein!«
Mehrere Punks aus der letzten Reihe kletterten einander auf die Schultern und versuchten, das dicht unter der Decke gelegene Fenster zu erreichen. Der Schriftsteller Rachmaninow stand daneben und sang zynisch vor sich hin: »No future.« Er blieb als Einziger ruhig. Das beleibte Mitglied der Heiligen Opritschnik-Bruderschaft stürzte sich auf Jasja und drehte ihr die Arme auf den Rücken. Vermutlich, um die Terroristin den Behörden zu übergeben. Wofür er umgehend von Nikita und dem herbeigeeilten Rachmaninow verprügelt wurde.
Die kollektive Hysterie beendete der angesehene Literaturkritiker Kurotschkin. Er trat zu der mitten auf der Bühne erstarrten und völlig verwirrten Jasja, drückte ihr die Hand und verkündete laut:
»Gratuliere! Ihr Auftritt war der einzige wirklich radikale und avantgardistische an diesem Abend! Er hat BUCHSTÄBLICH eingeschlagen wie eine Bombe!«
Die Dichter hörten das Urteil des Kritikers und stellten die Fluchtversuche ein. Jasja allerdings war seit diesem Skandal verfemt und wurde nie mehr irgendwohin eingeladen. Die literarische Karriere der Art-Terroristin war zu Ende, noch ehe sie begonnen hatte.
Nach der Lesung gingen einige Geschöpfe aus dem Radikalen-Bestiarium noch mit Jasja zu den Patriarchenteichen, Likörwein trinken. Nikita saß auf einer Bank und verlor hin und wieder das Bewußtsein. Die Fäuste des Heiligen Opritschniks hatten das Ihre getan. Eine
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