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Endstation Rußland

Endstation Rußland

Titel: Endstation Rußland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Natalja Kljutscharjowa
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Pathos.

    »Was wird aus den raren
    Den WAHREN
    Kommunistenscharen

    Sei nicht feige, kein Weichei
    Auf die Barrikaden, voran
    Syphilitiker bin ich, vom Mond gefallen
    Mein Blick ist trübe und klar.«

    Jasja saß auf dem Boden, gähnte ungeniert und hielt sich die Ohren zu. Der Radikale starrte das respektlose Mädchen wild an, blies die Nüstern auf und sprühte giftigen Speichel wie ein unreiner Götze:

    »Mit Stalinschem Nektar berieselt der Falke
    Von der stattlichen Birke das grüne Präzedens«

    Da kehrte die kahle Schura von ihrer psychedelischen Reise zurück, schwenkte kraftlos die Hand in Richtung des Götzen und sagte überraschend deutlich:
    »WEG MIT DEM PRÄZEDENS.«
    Jasja klatschte in die Hände. Der Götze verschluckte den Rest seines Textes und verfärbte sich dunkelrot.
    »Ich sehe, hier sind Menschen versammelt, die nichts verstehen von …«
    »Hoher Kunst!« soufflierte Jasja.
    Der Schriftsteller Rachmaninow mit den Goldzähnen, der in der letzten Reihe saß und trank, lachte laut.
    »JA, VON HOHER KUNST!« tobte der Radikale, undNikita fürchtete, der Götze würde sich jeden Augenblick auf seine Freundin stürzen und sie verschlingen.
    »Doch trotz der Angriffe geistloser Spießer« – der Schriftsteller Rachmaninow fiel vom Stuhl und lachte auf dem Boden weiter – »glaube ich daran, daß sich in diesem Saal auch Gleichgesinnte befinden.« Alle musterten sich gegenseitig argwöhnisch. »Ich appelliere an euch, ihr Menschen guten Willens und mit staatsbürgerlichem Gewissen!« Rachmaninow stöhnte leise und biß in ein Stuhlbein. »Tretet unserer Heiligen Opritschnik-Bruderschaft bei!«Der Götze verstummte, streckte den molligen Arm vor und verzog das Gesicht zu einem Ausdruck heiliger Ekstase.

    In diesem Augenblick wurde die Tür krachend aufgerissen. Das Publikum, vom Heiligen Opritschnik in einen kathartischen Zustand versetzt, drehte sich um, in der Erwartung, auf der Schwelle mindestens den wiederauferstandenen Hitler zu erblicken.
    Doch auf der Schwelle stand, gleichmäßig schwankend, ein Schneemensch in einer Felljacke. Die Felljacke war dem Schneemenschen zu klein, die Ärmel reichten nur bis kurz über die Ellbogen. Haare wuchsen ihm überall. Er hielt ein randvolles Glas Wodka in der Hand. Der Wodka schwappte blasphemisch auf den Fußboden.
    »Das Gespenst des russischen Radikalismus!« hauchte Jasja begeistert. Das Gespenst bedachte die ehrenwerte Versammlung mit einem trüben Blick, machte abrupt kehrt, riß einen Garderobenständer um und ging hinaus. Der Schriftsteller Rachmaninow folgte ihm auf allen vieren.

    Dann stand merkwürdigerweise eine beleibte alte Dichterin mit einem Gazeschal auf der Bühne. Wer dieses Wunder zueinem »radikalen« Festival eingeladen hatte und warum, war unklar. Die Gaze-Prinzessin schlug die Augen nieder und stimmte einen schleppenden Gesang an:
    »Ich habe Angst vor Hunden, ich habe Angst vor Katzen, ich habe Angst vor Mäusen, ich habe Angst vor Kakerlaken …«
    In der letzten Reihe brach eine stille Hysterie aus. Der Punk Plaksa schluchzte gepreßt, das Gesicht auf den Knien.
    »Ich habe Angst zu atmen, ich habe Angst zu sprechen, ich habe Angst zu schlafen, ich habe Angst zu denken …«
    »Das sieht man!« kommentierte Rachmaninow. Er stand an der Tür und hielt das Wodkaglas in der Hand, das er dem Gespenst abgenommen hatte.
    »Ich habe Angst vor meinem Bild im Spiegel …« An dieser Stelle lachte sogar die auf einem fremden Stern weilende Schura.
    »Ich habe Angst, vergewaltigt zu werden …«
    »Keine Bange, das droht dir bestimmt nicht!« riefen Rachmaninow und Jasja im Chor.
    »Ich habe Angst, vergewaltigt zu werden – von Lenin und Stalin!« schloß die Dichterin gewichtig und schickte sich an, noch mehr vorzutragen.
    Jasja schoß wie ein Kugelblitz hinaus auf die Straße.

    »Erinnerst du dich, in den Dämonen , da versammelt sich eine widerliche Gruppe revolutionärer Spukgestalten? Und einer sitzt da und schneidet sich die Fingernägel? Die Haare total fettig, der ganze Tisch voller Fingernägel, und er sitzt da und tönt vom Wohl des Volkes?« Jasja hatte einen grotesken Blick auf die Welt, und alles, was sie las, sah und hörte, wurde in ihrem Bewußtsein bis zur Unkenntlichkeit transformiert. »Jedenfalls, die Schwachköpfe damals, diewaren wesentlich angenehmer als die heute! Von denen damals wird einem nur übel! Aber bei denen hier will man KOTZEN! KOTZEN! UND NOCHMALS KOTZEN!«
    Jasja tobte vor Wut. Nikita fürchtete

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